Das Neuste
aus China
Zur
Erhellung der Geschichte unserer Zeit
Gebracht wird darin ein nach Europa
übermittelter Bericht über die nun erstmals staatlich zugelassene Verbreitung
des Christentums. Weiter werden viele bisher unbekannte Informationen gegeben:
über die Förderung der europäischen Wissenschaften, über die Sitten und
Gebräuche des Volkes und die moralische Einstellung vor allem des Herrschers
selbst sowie über den Krieg der Chinesen mit den Russen[1] und ihren
Friedensschluß.
Herausgegeben von G(ottfried) W(ilhelm)
L(eibniz)
Inhaltsverzeichnis auf der folgenden Seite
2. Auflage, vermehrt durch das Hinzukommen
einer weiteren Schrift 1699
Verzeichnis der in diesem Buch enthaltenen
Schriften:
Im ersten Teil, der bereits im
vorangegangenen Jahr[2] erschien:
1. Bericht über die jetzt endlich - 1692 -
erfolgte Erteilung der Erlaubnis, die christliche Religion in China zu
verbreiten; von Pater José Soares aus Portugal[3], Leiter des Pekinger
Collegiums
2. Auszüge aus einem in China gedruckten
Astronomiebuch von Pater Verbiest[4] über die Studien des
jetzt regierenden Herrschers
3. Brief von Pater Grimaldi[5] an Leibniz aus Goa
vom 6. Dezember 1693
4. Brief des belgischen Paters Antoine Thomas[6] aus Peking vom 12.
November 1695
5. Kurze Beschreibung[7] des Weges nach China,
der von der russischen Gesandtschaft in den Jahren 1693, 1694 und 1695
zurückgelegt wurde, in verbesserter Ausgabe
6. Anhang: Auszüge von Briefen des Paters
Gerbillon[8] aus der unter
russischer Herrschaft stehenden Stadt Nertschinsk an den Grenzen Chinas vom 2.
und 3. September 1689, in denen er über den Krieg und den endlich
zustandegekommenen Friedensschluß zwischen Chinesen und Russen berichtet
Im anschließenden Teil, der jetzt
veröffentlicht wird:
7. Herrscher-Porträt des jetzt regierenden
Kaisers der Chinesen, gezeichnet von dem französischen Jesuitenpater Joachim
Bouvet[9], aus dem
Französischen (ins Lateinische) übersetzt
Dem geneigten Leser zum Gruß[10]
G(ottfried) W(ilhelm) L(eibniz)
1. Durch eine einzigartige Entscheidung des
Schicksals, wie ich glaube, ist es dazu gekommen, daß die höchste Kultur und
die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt
sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und in Tschina[11] (so nämlich spricht
man es aus), das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende
der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die Höchste Vorsehung dabei das Ziel -
während die zivilisiertesten (und gleichzeitig am weitesten voneinander
entfernten) Völker sich die Arme entgegenstrecken -, alles, was sich dazwischen
befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßeren Leben zu führen. Und es
geschieht nicht durch Zufall, glaube ich, daß die Russen, die durch ihr
riesiges Reich China mit Europa verbinden und den äußersten Norden des
unzivilisierten Gebiets entlang den Küsten des Eismeeres beherrschen, unter dem
tatkräftigen Bemühen des jetzt regierenden Herrschers selbst[12] wie auch durch den
ihn mit Ratschlägen unterstützenden Patriarchen[13], wie ich gehört habe,
dazu angehalten werden, unseren Errungenschaften nachzueifern.
2. Nun zum chinesischen Reich: China nimmt es
schon an Größe mit Europa als Kulturlandschaft auf und übertrifft es sogar in
der Zahl seiner Bewohner[14], es weist aber auch
noch vieles andere auf, in dem es mit uns wetteifert und bei nahezu
"ausgeglichenem Kriegsglück" uns bald übertrifft, bald von uns
übertroffen wird. Aber um den Vergleich auf das Wesentliche zu konzentrieren
(denn um alle Aspekte zu behandeln, bedürfte es einer zwar nützlichen, aber
gleichwohl langwierigen und hier nicht angebrachten mühevollen Untersuchung):
In den Fertigkeiten, deren das tägliche Leben bedarf, und in der
experimentellen Auseinandersetzung mit der Natur sind wir - wenn man eine
ausgleichende Gegenüberstellung vornimmt - einander ebenbürtig, und jede von
beiden Seiten besitzt da Fähigkeiten, die sie mit der jeweils anderen
nutzbringend austauschen könnte; in der Gründlichkeit gedanklicher Überlegungen
und in den theoretischen Disziplinen sind wir allerdings überlegen. Denn außer
in der Logik und Metaphysik sowie in der Erkenntnis unkörperlicher Dinge -
Wissenschaften, die wir mit Fug und Recht als die uns eigenen beanspruchen -
zeichnen wir uns sicherlich bei weitem in der gedanklichen Erfassung der Formen[15] aus, die durch den
Verstand vom Stofflichen abstrahiert werden, d. h. in der Mathematik, wie man
in der Tat feststellen konnte, als die Astronomie der Chinesen in einen
Wettstreit mit der unsrigen trat. Sie scheinen nämlich jene große Erleuchtung
des menschlichen Verstandes, die Kunst der Beweisführung, bisher nicht gekannt
und sich mit einer Art aus der Erfahrung gewonnener Mathematik[16] begnügt zu haben, wie
sie bei uns weithin Handwerker beherrschen. Auch in Kriegskunst und
-wissenschaft befinden sie sich hinter unserem Stand - nicht so sehr aus Unkenntnis
als vielmehr in bewußter eigener Absicht, da sie nämlich alles verachten, was
bei den Menschen Aggression erzeugt oder fördert, und weil sie - beinahe in
Nacheiferung der höheren Lehre Christi, die nicht Wenige mißverstehen und bis
zur Ängstlichkeit übertreiben - Kriege verabscheuen. Sie würden damit weise
handeln, wenn sie allein auf der Erde existierten; unter den jetzigen
Verhältnissen aber läuft es darauf hinaus, daß auch rechtschaffene Menschen die
Techniken, anderen Schaden zuzufügen, pflegen müssen, damit die Bösen nicht
alle Macht an sich ziehen. In diesen Bereichen sind wir also die Überlegenen.
3. Aber wer hätte einst geglaubt, daß es auf
dem Erdkreis ein Volk gibt, das uns, die wir doch nach unserer Meinung so ganz
und gar zu allen feinen Sitten erzogen sind, gleichwohl in den Regeln eines
noch kultivierteren Lebens übertrifft? Und dennoch erleben wir dies jetzt bei
den Chinesen, seitdem jenes Volk uns vertrauter geworden ist. Wenn wir daher in
den handwerklichen Fertigkeiten ebenbürtig und in den theoretischen
Wissenschaften überlegen sind, so sind wir aber sicherlich unterlegen - was zu
bekennen ich mich beinahe schäme - auf dem Gebiet der praktischen Philosophie,
ich meine: in den Lehren der Ethik und Politik, die auf das Leben und die täglichen
Gewohnheiten der Menschen selbst ausgerichtet sind. Es ist nämlich mit Worten
nicht zu beschreiben, wie sinnreich bei den Chinesen - über die Gesetze anderer
Völker hinaus - alles angelegt ist auf den öffentlichen Frieden hin und auf die
Ordnung des Zusammenlebens der Menschen, damit sie sich selbst so wenig
Unannehmlichkeiten wie möglich verursachen. Es ist eine sichere Tatsache, daß
die größten Übel den Menschen durch sich selbst und voneinander wechselseitig
entstehen, und nur allzu wahr ist der Spruch, daß der Mensch dem Menschen ein
Wolf[17] ist. Es handelt sich
dabei um eine große Torheit speziell unsererseits, die aber auch ganz allgemein
für die Menschen gilt: Obwohl wir schon so vielen Unbilden der Natur
ausgeliefert sind, häufen wir uns selbst noch Elend dazu auf, als ob es
anderswoher fehlte.
4. Wenn irgendeine Nation für dieses Übel -
auf welche Weise auch immer - ein Heilmittel geschaffen hat, so sind sicherlich
die Chinesen im Vergleich zu den übrigen zu einer besseren Regelung gekommen und
haben in ihrer riesigen Menschengemeinschaft beinahe mehr erreicht als bei uns
die Gründer religiöser Orden in ihrem engen Kreis. So groß ist die Gehorsamkeit
gegenüber den Höherstehenden, so groß die Ehrerbietung gegenüber den Älteren
und von solcher beinahe religiösen Art die Sorge und Verehrung der Kinder
gegenüber ihren Eltern, daß ihnen gegenüber etwas Kränkendes auch nur durch ein
Wort hervorzurufen den Chinesen nahezu unerhört und fast - wie bei uns der
Vatermord - als sühnebedürftiges Verbrechen erscheint. Ferner gibt es zwischen
Gleichgestellten oder solchen, die einander relativ wenig verbunden sind,
staunenswerten Respekt und einen vorgeschriebenen Kodex von
Höflichkeitspflichten[18], der uns - die wir
freilich zu wenig gewohnt sind, nach einem Grundsatz und Regeln zu handeln -
etwas Unterwürfiges an sich zu haben scheint, der ihnen aber durch ständige
Anwendung zur Natur geworden ist und gerne befolgt wird. Die chinesischen
Bauern und Bediensteten (das ist von unseren Landsleuten mit Staunen beobachtet
worden) betragen sich, wenn sie ihren Freunden Lebewohl sagen müssen oder sich
nach einer langen Abwesenheit wieder des gegenseitigen Anblicks erfreuen,
gegeneinander so liebenswürdig und so respektvoll, daß sie es mit den gesamten
Umgangsformen europäischer Hochadliger aufnehmen könnten. Was soll man da erst
von den Mandarinen[19], was von den höchsten
Staatsbeamten[20] erwarten? So haben
sie es erreicht, daß kaum jemand dem anderen im gemeinsamen Gespräch auch nur
mit einem Wörtchen zu nahe tritt und ihnen selten Anzeichen von Haß, Zorn oder
Erregung entgleiten. Bei uns dauert ein gewisser Respekt und vorsichtig
abgewogener Gesprächston kaum - und nicht einmal das - in den ersten Tagen
einer neuen Bekanntschaft an, sondern wird bald mit zunehmender Vertrautheit
die vorsichtige Zurückhaltung abgelegt - was zwar ganz wie angenehme
Freiheitlichkeit aussieht, woher aber bald Verachtung, bissige Worte,
Zorneserregungen und schließlich Feindschaften herrühren; dagegen werden bei
den Chinesen sogar Nachbarn, ja selbst Hausangehörige durch einen Rahmen von
Gepflogenheiten so im Zaum gehalten, daß eine Art von gegenseitiger
Förmlichkeit gewahrt bleibt.
5. Und mögen sie auch weder von Geiz noch
Zügellosigkeit, noch Ehrsucht frei sein (daher ist insoweit auch von ihnen
wahr, was über die Mondvölker in dem Stück "Harlekin, Kaiser des
Mondes" im Theater[21] oft wiederholt wurde,
es geschehe dort alles genauso wie hier - c'est tout comme ici), und mögen die
Chinesen die wahre tugendhafte Lebensführung noch nicht ganz erreicht haben -
die dürfte man wohl nur von der himmlischen Gnade und der christlichen Lehre
erwarten -, so haben sie dennoch die bitteren Resultate menschlicher Fehler
gemildert, und obwohl sie die Wurzeln sündhafter Vergehen aus der menschlichen
Natur nicht ausrotten konnten, haben sie gleichwohl gezeigt, daß die
hervorsprossenden Schößlinge böser Eigenschaften zu einem guten Teil
niedergehalten werden können.
6. Wer aber dürfte nicht auch über folgendes
erstaunen: Der Herrscher eines so großen Reiches[22], der in seiner
Bedeutung den einem Menschen möglichen Gipfelpunkt beinahe überschritten hat
und gleichsam als ein sterblicher Gott angesehen wird, so daß auf einen Wink
von ihm alles geschieht, pflegt dennoch solchermaßen zu Tugend und Weisheit
erzogen zu werden, daß er es gerade seiner höchsten Stellung unter den Menschen
für würdig zu erachten scheint, seine Untertanen in einer unglaublichen Achtung
vor den Gesetzen und in Ehrfurcht gegenüber weisen Männern noch zu übertreffen.
Nicht leicht dürfte einem etwas der Hervorhebung Würdigeres vorkommen, als zu
sehen, wie der bedeutendste der Herrscher, der in der Gegenwart alles vermag,
die Nachwelt so ehrfürchtig achtet und mehr durch die Furcht vor den Annalen[23] der Geschichte in
seinem Handeln beschränkt wird als andere durch Ständeversammlungen und
Parlamente und sich auch mit großer Umsicht in acht nimmt, daß nicht
diejenigen, denen es übertragen ist, den geschichtlichen Stoff seiner
Herrschaft aufzubereiten, irgendetwas in jene verschlossenen und unverletzlichen
kleinen Kästen hineinbringen können, wodurch seine Beurteilung in der Nachwelt
befleckt werden könnte.
7. Das gilt so sehr, daß der jetzt regierende
K'ang-hsi, ein nahezu beispiellos hervorragender Fürst, wie immer er auch den
Europäern geneigt ist, es dennoch gegen die Empfehlung seiner obersten Behörden[24] nicht gewagt hat, die
Freiheit der christlichen Religion durch ein staatliches Gesetz zu
sanktionieren, bis ihre Heiligkeit geklärt war und es feststand, daß auf keine
andere Weise der große und heilsame Plan des Kaisers besser zur Vollendung
gebracht werden könne, in China europäische Fertigkeiten und Wissenschaften
einzuführen. In dieser Angelegenheit scheint mir der Kaiser als Einzelperson
weiter vorausgeschaut zu haben als alle seine obersten Behörden; und der Grund
für eine so überragende Klugheit war, wie ich glaube, die Tatsache, daß er
Europäisches mit Chinesischem verband. Denn in jeder Wissenschaft der Chinesen
war er - beinahe über die einem Privatmann mögliche Gründlichkeit hinaus - von
Kindheit an schon damals so unterwiesen, daß er in den Prüfungen[25] der Mandarine, durch
welche Ehrengrade und staatliche Stellen übertragen werden, als außerordentlich
strenger Richter gilt und (was bei den Chinesen Zeichen höchster Gelehrsamkeit
ist) seine Überzeugungen in bewundernswerter Weise in Schriftzeichen[26] ausdrücken kann, und
zwar bis zu einem solchen Grade, daß er ein von den gelehrtesten Männern der
Christen abgefaßtes Bittschreiben[27] selbst noch
verbessern konnte. Daher war er zunächst schon in der Gelehrsamkeit seines
Volkes genau bewandert und bereits nicht mehr ein ungerechter Schiedsrichter;
sobald er aber dann von dem belgischen Pater Ferdinand Verbiest aus Brügge, aus
dem Jesuitenorden, einem Schüler des Kölners Johann Adam Schall[28], einen Vorgeschmack
von europäischen Wissenschaften erhalten hatte, wie ihn bis dahin vielleicht
noch niemand in jenem Reich gehabt hat, konnte er gar nicht anders, als sich
über alle Chinesen und Tataren[29] durch seine Kenntnis
und Voraussicht zu erheben, wie wenn man auf eine ägyptische Pyramide noch
einen europäischen Turm setzen würde.
8. Ich erinnere mich, daß Pater Claudio
Filippo Grimaldi, ein ausgezeichneter Vertreter desselben Ordens, mir gegenüber
in Rom nicht ohne Bewunderung die Tugend und Weisheit dieses Fürsten pries,
denn um nichts über seine Gerechtigkeitsliebe, die liebende Fürsorge für seine
Völker, seine gemäßigte Lebensweise und die übrigen Lobpreisungen zu sagen -
Grimaldi hob hervor, daß des Kaisers erstaunlicher Wissensdurst nahezu
unglaublich sei. Denn er, den seine fürstlichen Verwandten und die
bedeutendsten Männer des gesamten Reiches von ferne verehren und in seiner Nähe
anbeten, bemühte sich zusammen mit Verbiest in der Abgeschlossenheit eines
inneren Gemachs drei oder vier Stunden lang täglich an mathematischen Geräten
und Büchern, wie ein Schüler mit seinem Lehrer; und er machte so große
Fortschritte, daß er die euklidischen Beweise erfaßte, die trigonometrischen
Berechnungen verstand und so in der Lage ist, die astronomischen Erscheinungen
in Zahlen auszudrücken. Ja, er verfaßte sogar - dies hat uns Pater Louis Le
Comte[30], der neulich von dort
zurückgekehrt ist, in einem veröffentlichten Bericht über China mitgeteilt -
selbst ein Buch über die Mathematik, um mit den Grundkenntnissen einer so bedeutenden
Wissenschaft und der Kenntnis wichtiger Wahrheiten in eigener Person seine
Kinder vertraut und die Weisheit, die er seinem Reich erschloß, im eigenen Haus
erblich zu machen, womit er für das Glück seiner Völker noch über sein Leben
hinaus vorsorgte; ich sehe keine hervorragenderen Pläne, die in menschlichen
Bereichen betrieben werden könnten, als diese.
9. Man muß allerdings die Mathematik nicht
nach Art eines Handwerkers, sondern der eines Philosophen betreiben. Tugend
fließt nämlich aus Weisheit, die Seele der Weisheit aber ist die Wahrheit, und
diejenigen, die die Beweise der Mathematik erforscht haben, haben das Wesen
ewiger Wahrheiten erfaßt und können Sicheres von Unsicherem unterscheiden,
während die übrigen Menschen zwischen Vermutungen hin- und herschwanken und
ähnlich, wie Pilatus[31] fragte, nicht wissen,
was Wahrheit ist. Daher besteht kein Zweifel, daß der Herrscher der Chinesen
deutlich das gesehen hat, was in unserem Teil der Welt einst Platon[32] hervorhob, nämlich,
daß man nur durch die Mathematik mit den Geheimnissen der Wissenschaft vertraut
werden könne. Und daß die Chinesen, auch wenn sie seit einigen tausend Jahren
mit erstaunlichem Eifer die Gelehrsamkeit pflegen und ihren Gelehrten die
höchsten Preise aussetzen, dennoch nicht zu einer exakten Wissenschaft gelangt
sind, ist, wie ich glaube, durch nichts anderes bewirkt worden als dadurch, daß
sie jenes "eine Auge"[33] der Europäer, d.h.
die Mathematik, nicht hatten, Obgleich aber jene uns für einäugig gehalten
haben, so haben wir dennoch noch ein weiteres Auge, das ihnen noch nicht
genügend bekannt ist, nämlich die "Erste Philosophie"[34], durch die wir zu der
Erkenntnis auch unstofflicher Dinge gelangen konnten. Verbiest hatte sich
bereits angeschickt, diese zu lehren, weil er zu Recht der Meinung war, daß so
der christlichen Religion besser der Weg bereitet werde, aber er wurde durch
seinen Tod daran gehindert.
10. Ich habe jetzt erfahren, daß die
französischen Jesuitenpatres Gerbillon und Bouvet unter königlicher
Schirmherrschaft und tätiger Anteilnahme von de la Chaize[35] und Verjus[36], bedeutender Männer
dieses Ordens und Volkes, zusammen mit vier weiteren in ihrer Eigenschaft als
Mathematiker aus der Akademie der Wissenschaften in den Osten geschickt worden
sind und außer durch die Mathematik auch durch die Lehre unserer Philosophie
sich den Herrscher verpflichtet haben. Wenn das so weitergeht, fürchte ich, daß
wir bald auf jedem anerkennenswerten Gebiet den Chinesen unterlegen sein
werden. Dies sage ich nicht deshalb, weil ich ihnen die neue Erleuchtung
neidete, da ich sie vielmehr dazu beglückwünsche, sondern weil es zu wünschen
wäre, daß wir auch unsererseits von ihnen Dinge lernten, die mehr noch in
unserem Interesse liegen würden, nämlich vor allem die Anwendung einer
praktischen Philosophie und eine vernunftgemäßere Lebensweise, um von ihren
anderen Errungenschaften jetzt nichts zu sagen. Jedenfalls scheint mir die Lage
unserer hiesigen Verhältnisse angesichts des ins Unermeßliche wachsenden
moralischen Verfalls so zu sein, daß es beinahe notwendig erscheint, daß man
Missionare der Chinesen zu uns schickt, die uns Anwendung und Praxis einer
natürlichen Theologie[37] lehren könnten, in
gleicher Weise, wie wir ihnen Leute senden, die sie die geoffenbarte Theologie
lehren sollen. Ich glaube daher: Wäre ein weiser Mann zum Schiedsrichter nicht
über die Schönheit von Göttinnen[38], sondern über die
Vortrefflichkeit von Völkern gewählt worden, würde er den goldenen Apfel den
Chinesen geben, wenn wir sie nicht gerade in einer Hinsicht, die aber freilich außerhalb
menschlicher Möglichkeiten liegt, überträfen, nämlich durch das göttliche
Geschenk der christlichen Religion.
11. Diese so große Gabe des Himmels dem
chinesischen Reich zu bringen, darum bemühen sich Europäer mit lobenswertester
Aufopferung seit einer Reihe von Jahren, besonders aber der Jesuitenorden,
dessen Einsatz in dieser Sache auch diejenigen anerkennen müssen, die ihn als
sich feindlich gesonnen betrachten. Ich weiß, daß Antoine Arnauld[39], ein Mann, der unter
die Leuchten unseres Zeitalters zu rechnen ist und der mit mir einst befreundet
war, leidenschaftlich die Jesuiten bekämpfte und dabei ihren Missionaren
einiges vorgeworfen hat. Aber das geschah, wie ich glaube, in einigen Fällen
heftiger, als es berechtigt war, denn nach dem Beispiel des Apostels Paulus muß
man "allen alles werden"[40], und die
Ehrenbezeugungen für Konfuzius scheinen nichts von religiöser Anbetung an sich
zu haben. In gleicher Weise ist Arnauld in seiner"Apologie" auch mit
den Niederländern und Engländern allzu ungerecht verfahren, indem er entweder
die Trägheit einiger weniger allen zuschrieb oder den sarkastischen Äußerungen
Taverniers Glauben schenkte, der durch eine private Kränkung gegen die
Niederländer aufgebracht war. Dabei ist doch bekannt, daß viele tausend Menschen
in beiden Indien von den Niederländern und Engländern zum Glauben bekehrt
worden sind[41] und man oft in
privaten Kreisen wie auch von Staats wegen Überlegungen anstellte, um dahin zu
kommen, Lob und Anstrengung gemeinschaftlich zu teilen - vorausgesetzt, daß der
Streit einstweilen beigelegt war. In dieser Angelegenheit gebe ich, da ich auf
die Frömmigkeit und Weisheit der großen Fürsten schaue, die Hoffnung nicht auf,
sofern nur erst Europa der Friede zurückgegeben ist[42].
12. Gleichwohl verschafft die Einrichtung der
religiösen Orden den heiligen Missionen günstige Bedingungen von der Art, wie
sie die Versuche anderer nicht leicht erreichen. Möge die Unternehmung aber so
betrieben werden, daß die Völker, deren Heil wir im Auge haben, ja nicht
erkennen, in welchen Dingen wir Christen unter uns uneins sind. Wir stimmen ja
doch alle insgesamt in jenen Grundsätzen des christlichen Glaubens überein, bei
deren Annahme durch jene Völker niemand an ihrer Rettung verzweifeln würde,
solange man eben nur nichts, was ketzerisch, unecht und überhaupt mit schwerem
Zweifel behaftet ist, daranhängte. In dieser Angelegenheit muß nach dem Vorbild
der alten Kirche in der Weise klug gehandelt werden, daß man weder unüberlegt
alle Glaubensgeheimnisse an Gemüter heranträgt, die darauf nicht vorbereitet
sind, daß aber dennoch auch nicht dadurch, daß man sich bemüht, den Völkern
entgegenzukommen, die christliche Wahrheit Schaden nimmt - wie das nach der
Klage von Louis de Dieu[43] in einem Evangelium
geschehen ist, das auf Persisch abgefaßt wurde. Ich sehe freilich, daß Rom
selbst bisweilen Fortschritte verzögert zu haben scheint, aus einer
Ängstlichkeit heraus, die aus zweifelhaften Berichten entstand, und daß einige
übel Beratene und in den menschlichen Gewohnheiten Unerfahrene - allerdings
unter dem Protest von Einsichtigeren - die weit entfernt lebenden Christen an
alle Vorschriften der abendländischen Gläubigen heranzwingen wollten; das war
ein Fehler, der sie in der Tat den Untergang der bereits blühenden
Kirchengemeinschaft bei den Abessiniern kostete[44].
13. Dennoch ist zu hoffen, daß man in Zukunft
aus dem Gebot christlicher Klugheit heraus vorsichtiger handeln und sich Mühe
geben wird, jene große und von Gott gegebene Gelegenheit in rechter Weise zu
nutzen, seitdem der Herrscher von China den christlichen Glauben durch
staatliches Gesetz zugelassen hat; die Geschichte dieser Entwicklung
übermittelt die nachstehende Schrift. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war die
christliche Glaubensausübung mehr geduldet als erlaubt, und das Wohlwollen der
chinesischen oder tatarischen Herrscher sowie die Verdienste unserer Landsleute
hatten nur bewirkt, daß man ein Auge zudrückte - und die Durchführung der
Gesetze auf sich beruhen ließ, die gegen nicht anerkannte Sekten strikt
gehandhabt werden, zu denen auch unsere Religion gezählt wurde. Aber die
wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sternhimmel und (wie es Verbiest
feinsinnig in seinem chinesisch und lateinisch veröffentlichten Werk
ausdrückte) die Muse Urania, die den Herrscher zu beeinflussen geruht hat,
bewirkten, daß unsere heilige und wahrhaft "himmlische" Lehre
zugelassen wurde[45]. Sobald der Kaiser
die sichere Aussagekraft unserer Mathematik gekostet hatte, erlangte sie bei
ihm solche Bewunderung, daß er leicht glaubte, diejenigen, die so zu denken
gelernt hätten, lehrten auch in anderen Bereichen das Richtige.
14. Als erster hatte Ricci[46] zu Beginn dieses
Jahrhunderts den Chinesen demonstriert, was die Europäer können. Schall hatte
unter dem chinesischen Herrscher und seinem tatarischen Nachfolger in aller
Öffentlichkeit einen Triumph über die chinesische Astronomie davongetragen.
Verbiest richtete die christliche Sache, die unter dem noch unmündigen Kaiser
durch das Wüten ihrer Gegner schon zu Boden geworfen war[47], mit großem Können
wieder auf, und nachdem er bald vertrauten Umgang mit dem jungen Kaiser erlangt
hatte, erlebte er dann auch den beständigen Sinn des ausgewachsenen Mannes. Als
er den bereiten Willen des Kaisers, der durch den süßen Geschmack der
Wissenschaften eingenommen war, nun in Anspruch nehmen wollte und Missionare
herbeirief, hielten ihn für einige Zeit Streitigkeiten auf, die zwischen den
Vertretern des Papstes und den Portugiesen entstanden, welche das Recht
beanspruchten, Bischöfe für China zu ernennen[48]. Aber auch zwischen
den Bischöfen von Baalbek und Beirut, die vom Papst mit weitreichender
Vollmacht in den Orient entsandt worden waren, und den Missionaren, die von den
religiösen Orden ausgingen und sich auf ihre Privilegien und das Argument der
ersten Inbesitznahme stützten, gab es in wechselvoller Weise Streit, bis die
Autorität des Papstes siegte. Nachdem die Verhältnisse also geordnet worden
waren, ließ Verbiest es nicht an eigener Tatkraft fehlen, und da er über sehr
großen Einfluß auf den Kaiser verfügte, überzeugte er ihn, daß - wie es ja in
der Tat ist - in der Wissenschaft der Europäer Schätze von weitreichenden
Möglichkeiten steckten, und er erreichte es - niemand kann sich daran erinnern,
daß dies je von den Chinesen unternommen worden ist (außer, als ein in den Westen
geschickter Gesandter einst von der ersten Insel Indiens das unglückselige
Götzenbild Fo mitbrachte)[49] -, daß gerade jener
von mir genannte Grimaldi nach Europa entsandt wurde, um Fachleute
verschiedener Professionen heranzuführen. Das Gedenken an die von Verbiest
unternommene mühevolle Arbeit stand beim Kaiser in solch hohem Ansehen (nachdem
Verbiest schon gestorben und Grimaldi noch nicht zurückgekehrt war), daß sie in
einem für die Religionsfreiheit eingereichten Bittgesuch unter die großen Verdienste
der europäischen Gelehrten gerechnet wurde.
15. Bald darauf, nachdem fünf französische in
den mathematischen Wissenschaften ausgebildete Jesuiten aus dem Königreich Siam
nach China gelangt waren - auch jetzt noch gegen den Willen der Portugiesen -,
ergab sich für unsere Landsleute eine neue Gelegenheit, sich Verdienste beim
Kaiser zu erwerben[50]. Die Russen hatten,
indem sie in kluger Mäßigung die unzivilisierten Völkerschaften nach und nach
unter ihre Botmäßigkeit brachten, ihr Reich ins Unermeßliche ausgedehnt und
sich in der Weise den chinesischen Tataren genähert, daß schließlich Konflikte
um die Grenzen ausbrachen. Der Streit wurde bald mit Waffen, bald mit
Verhandlungen ausgetragen. Schließlich kamen in der unter russischer Herrschaft
stehenden Stadt Nertschinsk Gesandte beider Völker, begleitet von nahezu
regelrechten Kriegsheeren, zusammen. Die Chinesen brachten in ihrer Delegation
die Jesuitenpatres Pereira aus Portugal und Gerbillon aus Frankreich mit; indem
diese als Dolmetscher fungierten, erreichte man es, daß glücklich letzte Hand
an die Aufgabe gelegt werden konnte: Es wurde ein sicherer Friede
abgeschlossen, und die Gesandten selbst erklärten öffentlich, daß sie alle - da
ihre Wesenszüge und Standpunkte so verschieden waren und sich äußerst mißtrauische
Völker hier gegenübertraten - sich unverrichteter Dinge wieder getrennt hätten,
wenn die Jesuiten nicht zur Stelle gewesen wären. Diesen Erfolg hat dann der
Kaiser selbst aufs klügste dahingehend genutzt, die europäischen Gelehrten
seinen obersten Behörden zu empfehlen.
16. Es sind mir Abschriften von Briefen
zugekommen, die Gerbillon vom Ort der Verhandlungen an de la Chaize und Verjus
schrieb und den Russen zur Besorgung anvertraute, aus denen ich Beachtenswertes
gelernt und im Anhang angeführt habe. Auch ein kurzer Bericht einer ganz
kürzlich - bereits nach dem Friedensschluß - zu den Chinesen gereisten
russischen Gesandtschaft oder vielmehr ihres Reiseweges wird hier beigegeben.
Wir erwarten einen ausführlichen und des Stoffes würdigen Bericht von Herrn
Brand aus Lübeck, der selbst Gesandter war. Wir werden auch einen Auszug aus
dem Astronomiebuch, das zugleich in chinesischen wie lateinischen
Schriftzeichen von Verbiest herausgebracht und von mir eingesehen wurde,
hinzufügen sowie von Pater Grimaldi, dem stellvertretenden Vorsitzenden der
mathematischen Kommission, den kurzen Brief, der auf seinem Reiseweg in Goa am
6. Dezember 1693 aufgegeben wurde, als er zu seinen Chinesen zurückkehrte - ich
veröffentliche ihn gerade deshalb, weil er mir Hoffnung auf vorzügliche
Informationen für Europa machte -, und schließlich auch den Brief des
belgischen Paters Thomas, stellvertretender Vorsitzender in der mathematischen
Kommission, durch den wir manches über den beachtlichen Fortschritt des
Christentums erfahren und, wie ich hoffe, die europäischen Höfe und Kirchen
dazu angespornt werden können, Arbeiter in eine wohlvorbereitete Ernte zu
schicken.
17. Aus diesen Nachrichten läßt sich offenbar
auch entnehmen, daß Grimaldi, von dem wir erfahren haben, daß er gleich nach
seiner Ankunft in Peking an einer gefährlichen Krankheit darniederlag, zum
großen Nutzen der Allgemeinheit wieder genesen ist. Als er von Rom aufbrach und
den größten Teil seiner Missionare in portugiesischen Schiffen vorausschickte,
hatte er beschlossen, über Land durch russisches Gebiet zu reisen, nachdem er
mit Brief und Siegel der kaiserlich-chinesischen Behörde, die die höchste
Aufsicht über das Militärwesen führt, ausgerüstet war[51] und auf seiner Reise
auch unserem großen römischen Kaiser und dem König von Polen[52] einen Besuch
abgestattet hatte. Aber weder durch die enorme Bedeutung seines Auftrags noch
durch die Empfehlung solch bedeutender Fürsten konnte er es erreichen, von den
Russen zugelassen zu werden; dieses Schicksal mußte kurz vorher auch Pater
Avril[53] erfahren, von dem ein
Reisebericht vorhanden ist.
18. Ich hatte Grimaldi Aussichten gemacht auf
den "Chinesischen Schlüssel" des in Kenntnissen über den Osten sehr
bewanderten Andreas Müller[54] aus Pommern, und er hatte
vor seiner Reise durch Schlesien vergebens versucht, den Mann zu treffen;
obwohl er nämlich am Erfolg zweifelte, glaubte er dennoch, in einer so
wichtigen Angelegenheit nichts unversucht lassen zu dürfen. Aber launischer
Charakter und Gelehrsamkeit stritten miteinander in Müller, und daher waren
sowohl ich wie auch Grimaldi, Ludolph[55] und der verstorbene
Große Kurfürst[56] selbst, von dem er
die Berliner Probststelle bekommen hatte, erfolglos. Möglicherweise hielt er
seine Entdeckungen für zu wichtig, möglicherweise zögerte er auch, noch nicht
genügend ausgereifte Ergebnisse ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, in dem
Glauben, man könne sich übertriebene Vorstellungen von noch unbekannten Dingen
machen. Und das eigenwillige Wesen des Mannes verstieg sich schließlich bis zu
dem Punkt, daß er die Drohungen, die er verbreitet hatte, ausgeführt und seine
Unterlagen kurz vor seinem Tod verbrannt haben soll - wobei es unklar bleibt,
welche Erkenntnis er uns entziehen wollte, die seines Wissens oder die seines
Unwissens. Wie ich für mein Teil nun glaube, daß er schon damals bedeutende
Resultate erzielt hat, so bin ich auch der Ansicht, daß er auf noch weitere
hoffte - was er hätte wahrmachen können, wenn er hinreichend unterstützt worden
wäre; wenn er also Leuten, die etwas davon verstehen, offen den ganzen
Sachverhalt dargelegt hätte, hätte er unzweifelhaft durch die Förderung großer
Fürsten und vor allem seines eigenen Landesherrn das Fehlende ergänzen können.
Was immer indessen es war - es kann jedenfalls nicht vollständig unnütz gewesen
sein, wie ich glaube -, es ist durch den Starrsinn eines Mannes, der im übrigen
von guter Art war und sich einige Verdienste erworben hatte, der christlichen
Sache und den Missionen verlorengegangen.
19. Um aber zu Grimaldi zurückzukommen:
Nachdem er erfahren hatte, daß die Russen sich nicht erweichen ließen, reiste
er nach Genua zurück, segelte von dort nach Marseille und von hier nach Smyrna
und gelangte über Land zu den Persern, wohin ihm - und auch noch darüber hinaus
- ein Brief von mir gefolgt ist, den der durchlauchtigste König von Polen
seinem Empfehlungsschreiben für Grimaldi an den persischen König auf die
Empfehlung der Patres Vota[57] und Kochanski[58] hin hatte anfügen
lassen; jedoch gelangte der Brief erst nach Isfahan, als er selbst schon
abgereist war. Es war seine Absicht gewesen, von Persien aus durch das Gebiet
der usbekischen Tataren und über Buchara weiter nach China zu reisen, er wurde
aber durch den unsicheren Zustand, in dem sich die Routen in jener unzivilisierten
Gegend befanden, abgeschreckt und erreichte deshalb auf dem üblicheren Weg über
Goa und Indien schließlich den Hafen Macao, und er wurde unter großer Freude
des Kaisers und mit höchster Ehre im Chinesischen Reich empfangen.
20. Jetzt, sagt man, erhält die christliche
Sache erheblichen Auftrieb, und es besteht größte Hoffnung auf bedeutendere
Fortschritte, besonders wenn es wahr ist, was Pater Adam Adamandus Kochanski,
der durch seine ausgezeichnete Bildung und seine großen Kenntnisse vor allem
der Mathematik hervorragt - auch durch seine Entdeckungen macht er dem
Jesuitenorden Ehre -, an mich schrieb: es sei ihm berichtet worden, daß der
Kronprinz des Reiches in europäischen Sprachen unterrichtet werde. Schon wird
aus Frankreich neuer Nachschub an Missionaren geschickt. Ich hoffe, daß auch
Deutschland sich und Christus nicht enttäuschen wird und - ein Wunsch, den ich
in einem nach Wien geschriebenen Brief geäußert habe - daß, nachdem der
römische Kaiser neulich mit den Russen einen Vertrag abgeschlossen hat[59], die Zugänge nun
offen sind, um Verkünder des Evangeliums nach China zu senden; an die
außerordentliche Frömmigkeit und Weisheit des Kaisers appelliert dabei sein
Beichtvater Pater Menegatti[60], dessen hervorragende
Gelehrsamkeit seiner Stellung entspricht. Wenn also diese Pläne denen am Herzen
liegen, die sie angehen, so möchte ich glauben, daß man noch einige Ermahnungen
aussprechen kann, damit wir das himmlische Geschenk und die günstigen
Verhältnisse nur um so richtiger nutzen.
21. Schon vor Zeiten begannen die Chinesen,
das Wort Christi anzunehmen. Man weiß, daß sie den Römern und Griechen unter
dem Namen "Serer" bekannt waren. In den Zeiten des großen Justinian
wurden Seidenraupen[61] ins römische Reich
gebracht, und damals auch gab der Mönch Kosmas Indopleustes[62] über andere
hinausgehend Kunde von entfernten Völkerschaften. Aus seinen Schriften gab
Holstenius als Auszug die Inschrift von Adulis[63] aus dem inneren
Afrika heraus. Derselbe Kosmas hat - was niemand vor ihm getan hat, soweit
bekannt ist - den wahren Namen des serischen Gebietes überliefert. Er nennt es
nämlich "Tzin", eine Aussprache, die näher an die Wahrheit herankommt
als unsere allgemein gebräuchliche, wenn wir es "Sinae" oder China
nennen; ich habe ja bereits gesagt, daß es mit den Portugiesen Tschina zu
nennen ist.
Daß ferner Christen aus Syrien nach China
vorgedrungen sind und Christus eine Kirche gegründet haben, zeigt das Monument[64], das bei den Chinesen
in unserem Jahrhundert gefunden wurde, Athanasius Kircher[65] veröffentlichte und
auch Andreas Müller kommentiert hat. Da es aber bei den Gelehrten noch mit
einigem Zweifel behaftet war, hat Melchisedech Thevenot[66], königlicher
Bibliothekar in Frankreich, der - mit größten Kenntnissen ausgestattet und im
Verfolg bedeutender Pläne - vor allem um die Erforschung der Geographie bemüht
war, in Schriften von Mohammedanern einige stützende Belege gefunden, um die
Authentizität des Monumentes zu untermauern; ich fürchte aber, daß sie durch
den Tod des Mannes verlorengegangen sind. Später habe ich bei meinen
Nachforschungen in Erfahrung gebracht, daß der in Kenntnissen über den Osten
sehr bewanderte Franzose Herbelot[67] - der selbst auch
schon tot ist - einen (arabischen oder persischen) Bericht einer Reise durch
das Gebiet der Usbeken zu den Catainern oder Chinesen für den Großherzog von
Toskana übersetzt hat, worin sich ein Beweis befinden soll für frühes
Christentum in China. Da es für die christliche Sache wichtig ist, daß dieses
Dokument veröffentlicht wird, habe ich den ehrenwerten Herrn Antonio Magliabecchi[68], der sowohl in meinen
wie auch den Belobigungen anderer oft genannt worden ist, gebeten, dafür zu
sorgen, daß man herausfindet, was immer es ist; dabei wird der Großherzog,
dessen Weisheit seiner Frömmigkeit gleichkommt, seine Förderung zweifellos
nicht versagen.
22. Bei uns bewahrt nach dem Tode von Andreas
Müller Christian Mentzel[69], der Leibarzt des
durchlauchtigsten und mächtigsten Kurfürsten, die wissenschaftliche
Beschäftigung mit China in Berlin; dabei beseelt seinen hervorragenden Einsatz
die bereitwillige Förderung durch den Kurfürsten, der außerordentlich weise ist
und in seinem wahrhaft brennenden Bemühen um die Verbreitung wahrer Frömmigkeit
und wahren Glaubens hinter niemandem zurücksteht. Als ferner dieser jetzt von
mir herausgegebene Bericht des Rektors des Pekinger Collegiums von dem
portugiesischen Pater do Amaral[70] aus der Hauptstadt
abgeschickt wurde und mir zugekommen ist auf die Empfehlung von Herrn von
Cochenheim[71] hin, Rat des
erlauchten Bischofs zu Münster, glaubte ich, es sei im Interesse der
christlichen Sache, daß frühzeitig eine genaue Darstellung des himmlischen
Gnadenaktes vorhanden sei, zu vergleichen mit den Informationen, die Pater
Louis Le Comte in seiner französischen Darstellung der chinesischen
Verhältnisse berührt hat. Ich war auch nicht der Ansicht, unüberlegt zu
handeln, wenn ich noch einiges hinzufügte und in einer Vorrede ausspräche,
wodurch die europäische Frömmigkeit immer mehr dazu entflammt werden möge, die
ungeheuer große Aufgabe durchzuführen. Sicherlich ist die Bedeutung des
chinesischen Reiches schon aus sich heraus eine solch gewaltige und das Ansehen
der klügsten Nation im Osten so überragend, wie auch ihr Einfluß, der bei den
übrigen beispielhaft gelten wird, daß wahrscheinlich seit den Zeiten der Apostel
kaum ein größeres Werk für den christlichen Glauben in Angriff genommen worden
ist.
23. Möge Gott es geschehen lassen, daß unsere Freude begründet und dauerhaft ist und nicht durch unklugen Glaubensfanatismus oder durch interne Streitigkeiten der Männer, die die Pflichten der Apostel auf sich nehmen, noch durch üble Beispiele unserer Landsleute zunichte gemacht wird.
[1] „Russen” im lateinischen Text: bei Leibniz immer „Mosci”. Da
jedoch in anderem zeitgenössischem Schrifttum bereits die moderne Bezeichnung
„Russen”, lateinisch „Rutheni” – s. z. B. den lateinischen Text des Vertrages
von Nertschinsk unten S. 108 ff. – vorzudringen beginnt, wurde diese
durchgehend für die Übersetzung verwendet.
[2] „Im vorangegangenen Jahr”. Die 1. Auflage der Novissima Sinica
erschien tatsächlich 1697, die 2. Auflage 1699, die 1. Auflage also zwei Jahre
früher. Doch wurde hier das lateinische „praecedens” wörtlich übersetzt.
[3] Soares, Jose (Joseph) = Sou Lin P’ei-tsang 1656 (Coimbra) -
1736 (Peking), Portugiese, Jesuit, war ab 1680 in Macao, 1684 in Shanghei, 1685
in Yangshow und ab 1688 in Peking, wo er 1692 – 1697 das Jesuiten-Kollegium
leitete. Sein von Leibniz (als Anlage 1 der Novissima Sinica) in vollem
Wortlaut veröffentlichter Bericht über die Geschichte des Toleranz-Ediktes vom
22. 3. 1692 vermittelt einen wertvollen Einblick nicht nur in die
Schwierigkeiten und Intrigen, mit denen die Jesuiten in China zu kämpfen
hatten, wir erhalten auch Informationen, wie die Willensbildung einzelner
Behörden und Beamten in Peking und der Zutritt zum Kaiser K’ang-hsi damals
vonstatten gingen, kurz einen Einblick in die damalige chinesische Bürokratie.
Aus Raumgründen haben wir darauf verzichten müssen, den bereits von uns aus dem
Lateinischen übersetzten Bericht hier zum Abdruck zu bringen. Der Bericht von
Soares wurde u. a. auch von Couplet in seiner Tabula chronologica Sinica Vienne
1703 veröffentlicht.
[4] Verbiest, Ferdinand = Nan Houai-Jen Touen-Pei 1623 (Pitthem
bei Brugge) – 1688 (Peking) Flame, Jesuit, war 1658 in Macao, 1659 in Xi’an und
ab 1660 in Peking, wo er sofort zum Hof-Astronomen ernannt wurde, um Adam
Schall behilflich zu sein. Er wurde wie dieser 1664/65 ins Gefängnis geworfen
und 1669 wieder in Freiheit gesetzt. Er rekonstruierte das astronomische
Observatorium, ließ neue Instrumente bauen und reformierte den chinesischen
Kalender. 1669 wurde er Vorsitzender der Obersten Mathematischen Behörde, 1675
stellvertretender Leiter des Ministeriums für Öffentliche Arbeiten. Er wurde
Mandarin 2. Grades. Zu seinen Obliegenheiten gehörte auch der Guß von Kanonen
für K’ang-hsi. 1676 diente er dem russischen Gesandten Spathari als
Dolmetscher. Er hat zahlreiche Werke in lateinisch und chinesisch
veröffentlicht. Berühmt ist die von ihm gefertigte und dem Kaiser überreichte
Weltkarte. Von Verbiest existieren zahlreiche Bilder, darunter z. B. im te
Scheut-Museum in Brüssel. Leibniz gibt (als Anlage 2) Auszüge aus seinem
Astronomie-Buch, „Astronomia Europaea sub Imperatore Tartaro Sinico Cam Hy
appellato ex umbra in lucem revocata a R.P. Ferdinando Verbiest Flandro-Belga a
societate Jesu Academiae Astronomicae in Regia Pekinensi Praefecto cum
privilegio Caesareo et facultate superiorum”, Dillingen 1687, zu deutsch
„Europäische Astronomie unter dem tatarisch-chinesischen Kaiser mit Namen Cam
Hy (K’ang-hsi) aus dem Schatten wieder ans Licht gebracht von P. Ferdinand
Verbiest aus Flandern-Belgien aus der Gesellschaft Jesu`, Leiter der
Astronomischen Akademie in Peking”. Mit seiner Veröffentlichung wollte Leibniz
vor allem das Interesse und die Lernfreudigkeit des Kaisers K’ang-hsi für die
westliche Wissenschaft dokumentieren.
Wir haben diesen Auszug
ebenfalls aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, jedoch auch hier auf den
Abdruck verzichtet, da er uns zu umfangreich erschien und er nach dem damaligen
Stande der Astronomie hätte kommentiert werden müssen. Wir beschränken uns auf
die Wiedergabe von Faksimiles der Titelblätter der chinesischen und in
Deutschland erschienenen Ausgaben und auf die bildliche Wiedergabe des
astronomischen Instrumentariums, das im Holzschnitt den beiden Ausgaben
vorangestellt war. Vgl. unten S. 38 Verbiest gehört sicher neben Matteo Ricci
und Adam Schall von Bell zu den drei Großen der westlichen Missionare und
Persönlichkeiten im China des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein ausführliches
Verzeichnis seiner Werke, insbesondere auch der chinesischen, bei Pfister
a.a.O., S. 352 – 360, ausführliches Verzeichnis der Lebensbeschreibungen und
Abhandlungen über Verbiest bei Dehergne, a.a.O., S. 289 f. Als neueste Publikationen
nennen wir R. A. Blondeau, Mandarijn en astronoom, Verbiest aan het hof van de
Chines. Keizer, Brugge-Utrecht 1970; Helmut Walravens, Die
Deutschland-Kenntnisse der Chinesen (bis 1870), nebst einem Exkurs über die
Darstellung fremder Tiere im K’un-yü t’u-schuo des P. Verbiest, Kölner
Dissertation 1972; Fang Hao, Vertaling van en comentar op de levensschets van
Ferdinand Verbiest, Dissertation Löwen 1978, alle drei mit ausführlichen
Literaturangaben. Als bemerkenswert sei noch erwähnt, daß Verbiest das Modell
eines dampfgetriebenen Fahrzeugs in China entworfen hat und damit als der
Erfinder des ersten Automobils gilt, ein Zeichen seiner nicht nur
theologischen, philosophischen, astronomischen und sprachlichen – er hat u. a.
auch eine zweibändige tatarische (mandschurische) Sprachlehre geschrieben –,
sondern auch seiner technisch-praktischen Fähigkeiten.
[5] Grimaldi, Claudio Filippo = Min Ming-Ngo Tö-Sien 1638
(Cineo/Piemont) – 1712 (Peking) Italiener, Jesuit, wurde auf Betreiben von
Verbiest vom Kaiser K’ang-hsi 1671 von Kanton nach Peking gerufen und
begleitete den Kaiser, zu dem er in ein persönliches Vertrauensverhältnis trat,
1683 und 1685 auf Reisen in die Mandschurei. 1711 veröffentlichte er in Peking
einen Himmelsatlas Fang sind t’ou kiai. 1688 wurde er Vorsitzender der Obersten
Mathematischen Behörde und Mandarin. Seit 1700 war er Leiter des
Jesuiten-Kollegiums in Peking. 1686-1691 war Grimaldi in Europa (Rom, Paris,
Wien, München) und reiste über Smyrna und Persien nach Peking zurück, wo er
1694 wieder eintraf.
Leibniz kam 1689 mit ihm in Rom
zusammen und führte mit ihm eingehende Gespräche über China, die sein Interesse
für China wesentlich vertieften und letzten Endes auch den Grund zur Novissima
Sinica und den Gedanken des Kultur-Austausches mit China legten. Mit Grimaldi
stand Leibniz bis zum 30. 12. 1696 in regem Briefwechsel. Leibniz
veröffentlichte (als Anlage 3 der Novissima Sinica) einen kurzen Antwortbrief
Grimaldis an ihn aus Goa vom 6. 12. 1693, in dem Grimaldi versprach, sich um
die Beantwortung der vielen von Leibniz gestellten Fragen zu kümmern.
[6] Thomas, Antoine = Ngan To Ping-ehe (Ngan To = Antonio) 1644
(Namur) – 1709 (Peking) Wallone, Jesuit, wollte zunächst in Japan missionieren,
ging 1682 – 1685 von Macao nach Kanton, war 1686 in Nanking und bereits seit
Ende 1686 in Peking. Dort wurde er auf Vorschlag Verbiests stellvertretender
Vorsitzender der Obersten Mathematischen Behörde und Vertreter des sich auf
Reisen nach Europa begebenden Grimaldi. Er wurde Mandarin und begleitete Kaiser
K’ang-hsi 1686 auf dessen Reisen in die Mandschurei und mongolischen Gebiete.
Thomas hat zahlreiche Werke und Briefe hinterlassen und zusammen mit Pereira z.
B. auf chinesisch eine Lebensbeschreibung Verbiests verfaßt. Zeitweise war er
auch als Sekretär für Verbiest tätig.
In seinem von uns nicht
veröffentlichten Brief vom 12. 11. 1695 (Anlage 4 der Novissima Sinica)
berichtet er über die Förderung des Christentums durch Kaiser K’ang-hsi, die
Bekehrung höchster Würdenträger und Familienangehörigen des Kaisers und weitere
Erfolge der Mission in China. Zahlreiche Briefe von Thomas befinden sich noch
in europäischen Archiven. Thomas verfertigte auch eine Landkarte zu dem Vertrag
von Nertschinsk vom 7. 9. 1689, die Sebes (s. die Bibliographie S. 105)
veröffentlichte. Wir bringen sie auf S. 116/117.
[7] Adam Brand gehörte mit mehreren anderen Deutschen der
russischen Gesandtschaft von Isbrand Ydes an, der 1692 – 1694 von Moskau nach
Peking reiste. Brand veröffentlichte seinen Reisebericht 1699 in Amsterdam und
fügte diesem Bericht eine von ihm verbesserte Karte des Amsterdamer
Bürgermeisters Witsen bei. Wir veröffentlichen diese Karte auf S. 112/113. Das
von Leibniz nach vielen Mühen von Witsen besorgte Original-Exemplar der
Sibirien-Karte scheint in der Niedersächsischen Landesbibliothek, wo es sich in
dem Nachlaß von Leibniz befand, abhanden gekommen zu sein.
Leibniz erhielt bereits vor dem
Erscheinen des ausführlichen Reiseberichts einen kürzeren Bericht in Briefform
von Brand, den er auszugsweise als Anlage 5 der Novissima Sinica
veröffentlichte, war aber mit diesem legendenhaft ausgeschmückten und nicht
gerade zuverlässig anmutenden Vorbericht nicht zufrieden. Wir haben daher
diesen Auszug nicht abgedruckt.
[8] Gerbillon,
Jean-François = Tschang Tsch’eng Che-tai 1654 (Verdun) – 1717 (Peking)
Franzose, Jesuit. Er gab dem Kaiser K’ang-hsi wissenschaftlichen
Unterricht und begleitete ihn auf acht Reisen 1689-1698 in die Tatarei. Er war
Astronom und Geograph und fertigte 1692 eine neue Karte der Großen Tatarei an.
Er schrieb u. a. eine tatarische Sprachlehre und fertigte den berühmten Bericht
über das Zustandekommen des Vertrages von Nertschinsk, den Du Halde 1735
veröffentlichte. Siehe die Bibliographie beim Vertrag von Nertschinsk unten S.
105. Die Leitung der Jesuiten-Unterhändler in Nertschinsk hatte der Portugiese
Pereira, dessen Tagebuch erst 1961 von Sebes herausgegeben wurde (mit einer
Übersetzung aus dem Portugiesischen ins Englische), das wir weitgehend bei
unserer Behandlung des Vertrages von Nertschinsk herangezogen haben. Zahlreiche
Briefe von Gerbillon sind noch nicht veröffentlicht.
Den von Leibniz gefertigten
Auszug der Briefe von Gerbillon über den Vertrag von Nertschinsk (Anlage 6 der
Novissima Sinica) bringen wir aus dem Lateinischen in deutscher Übersetzung
unten S. 106. Ihm stellen wir die heutigen zugänglichen Informationen –
erstmalige Übersetzung des lateinischen Vertragstextes ins Deutsche –
gegenüber, um die Unzulänglichkeit der Leibniz damals zugänglichen
Informationen zu zeigen, die seine auch heute noch wichtig erscheinenden
Schlußfolgerungen nur um so bemerkenswerter erscheinen lassen.
Nachzutragen bleibt noch, daß
Gerbillon mit Spenden des kaiserlichen Hofes in Peking eine neue Kirche bauen
und eröffnen konnte, zu der Kaiser K’ang-hsi nicht nur Geld gab, sondern auch
Kalligraphien von seiner Hand als Schmuck beisteuerte.
[9] Bouvet,
Joachim = Pei Tsin Ming-Yuan 1656 (Mans) – 1730 (Peking), Franzose, Jesuit. Er
gehörte zu den sechs Mathematikern, die Ludwig XIV. mit Gastgeschenken nach
China entsandte. Nach seiner Ankunft in Peking (1688) wurde er 1693 vom Kaiser
K’ang-hsi als Gesandter mit Gegengeschenken nach Frankreich geschickt, kehrte
1699 zurück. Er wurde 1700 erneut zur Beilegung des Ritenstreites nach Europa,
und zwar nach Rom, entsandt, jedoch bereits in Kanton zurückgerufen. In Peking
arbeitete er eng mit Gerbillon zusammen und wurde wie dieser und andere
Vertrauter des Kaisers, den er in Mathematik unterrichtete. Er richtete
außerdem das erste Chemie-Laboratorium in China ein.
Außer zahlreichen Briefen
(darunter noch viele nicht herausgegeben) nennt Pfister 14 Werke Bouvets,
darunter Reisebeschreibungen, Abhandlungen über den Himmelskult der Chinesen,
des Buches der Wandlungen (I-Ging), ein chinesisch-französisches Wörterbuch und
vor allem das als Anhang 6 der 2. Auflage der Novissima Sinica 1699 von Leibniz
beigefügte „Historische Porträt des Kaisers von China”, das er König Ludwig
XIV. von Frankreich widmete und mit einem Bild von K’ang-hsi versah, mit dem
Leibniz die 2. Auflage der Novissima Sinica schmücken ließ, das wir ebenso wie
Lach dieser 2. Auflage entnommen und auf den Umschlag unserer Veröffentlichung
gesetzt haben. In diesem Buch zieht Bouvet Parallelen zwischen Ludwig XIV. und
Kaiser K’ang-hsi, wobei seine Wertschätzung für K’ang-hsi – wahrscheinlich
bewußt mit politischer Tendenz – besonders zum Ausdruck kommt. Das Buch wäre es
wert, auch heute noch in deutscher Sprache veröffentlicht zu werden, wir haben
aber derzeit aus Raumgründen davon absehen müssen.
[10] „Dem geneigten Leser zum Gruß”: die lateinische
Begrüßungsformel ist stärker, denn hier ist „salutem” noch durch den Superlativ
„plurimam” hervorgehoben, in der Übersetzung jedoch von uns weggelassen, weil
es in unserer Sprache keine rechte Entsprechung gibt.
[11] Tschina: Der kurze
Vermerk, der sich hier bei Leibniz über Schreibweise und Aussprache der
richtigen Bezeichnung für China findet (vgl. auch Kap. 21), spiegelt noch ein
wenig von den Schwierigkeiten wider, die die Europäer damit hatten, einen
zutreffenden Namen für das Reich der Mitte zu finden. Die Reihe der
abendländischen Namengebungen für China ist nahezu eine Geschichte für sich:
Die erste europäische
Bezeichnung für die Chinesen dürfte „Serer” gewesen sein (lat. „Seres”),
abgeleitet von dem chinesischen Wort für Seide (heute szu, früher aber
wahrscheinlich sir). Dabei tauchen die „Seidenleute” mit letzter Sicherheit
erst in der kaiserzeitlichen Literatur auf (frühere Erwähnungen – etwa bei dem
ionischen Geschichtsschreiber Ktesias aus dem 5./4. Jhd. v.d.Z. oder bei
Nearchos, dem Admiral Alexanders d. Gr. in Strab. 15, 1,20, p. 693 – sind
wahrscheinlich Zusätze späterer Autoren, bei denen sie zitiert sind), bei
Geographen und Naturkundlern wie Strabon und Plinius d. Ä.
Bereits im späten 1. Jhd. n.d.Z.
taucht dann aber eine Vorform des Namens auf, der letztlich bis heute
bestimmend geworden ist: Der sogenannte „Periplus Maris Erythraei” (wörtl.:
„Umschiffung des Roten Meeres”) – der wahrscheinlich in diese Zeit zu datieren
ist – eines unbekannten Verfassers spricht Kap. 64 (Müller, GGM I, S. 303) von
der „sehr großen Stadt Thinai” weit im Osten und Norden hinter der Insel Chryse
(vielleicht die Malaiische Halbinsel). Im 2. Jhd. n.d.Z. findet sich dann in
der Geographie des Claudius Ptolemaeus der Name „Sinai” (latinisiert „Sinae”),
der einerseits (Ptol. Geogr. 1, 17, 5) mit den „Seres” und andererseits mit
„Thinai” (ebd. 7, 3, 6) gleichgesetzt wird. „Sinai” rührt letztlich von dem
ursprünglichen chinesischen Teilstaat Ch’in oder Ts’in her, dessen Fürsten als
Ch’in-Dynastie im Jahre 246 v. Chr. ganz China unter ihrer Herrschaft einigen
konnten und dem neuen Ganzen nun ihren Namen gaben. Der Name Ch’in gelangte
dann über Indien (hier als „Cina” oder „Maha-Cina”) in den Westen und setzte
sich hier in seiner latinisierten Form „Sinae” schließlich allgemein durch; im
wissenschaftlichen lateinischen Schrifttum zu Leibniz` Zeit und natürlich auch
bei Leibniz selbst ist er die gängige Bezeichnung für China und hat sich
schließlich in der Fachbenennung „Sinologie” verewigt.
Vorher jedoch hatte China im
Westen noch eine Reihe anderer Namen zu durchlaufen. Der byzantinische
Seekaufmann und spätere Mönch Kosmas Indikopleustes aus dem 6. Jhd. (s. dazu
auch Anm. 62) nennt das ferne Land des Seidenhandels im Osten „Tzinista”. Der
etwa ein Jhd. später lebende ebenfalls byzantinische Geschichtsschreiber
Theophylaktos von Simocatta berichtet über das China der T’ang-Zeit unter dem
Namen „Taugast” – wohl über die türkische Bezeichnung Tavgac vermittelt und
lautlich vielleicht zuletzt auf die T’ang-Hauptstadt Ch’ang-an zurückzuführen.
Die für das Mittelalter dann
maßgebliche Namensform hat der Franziskanermönch Giovanni de Piano Carpini
geprägt, der 1245 von Papst Innozenz IV. in offiziellem Auftrag an den Hof des
Mongolenherrschers in Karakorum geschickt wurde. In seinem über diese Reise
verfaßten Bericht bezeichnet Piano Carpini China als „Kitai” (die betreffende
Textstelle in Übersetzung bei F. Risch, Johann de Plano Carpini, Leipzig 1930,
S. 119 f., zitiert bei W. Franke, China und Abendland, S. 10). Kitai ist
abgeleitet vom Namen des wohl tungusischen Stammes der Ki, die 916-1124 als
Liao-Dynastie Nordchina beherrschten. Kitai oder Katai/Cathay wurde die
allgemein übliche mittelalterliche Bezeichnung für China bzw. den Mongolenstaat
im Fernen Osten, populär gemacht natürlich durch die Reisebeschreibungen Marco
Polos.
Diese recht ansehnliche Fülle
von Namen für ein einziges Land trug keineswegs nur zur Kenntnis über dieses
Land bei, sondern verbaute eher den Zugang zu früheren Informationen, da oft
nicht klar war, ob man mit den verschiedenen Namen dasselbe meinte. Hier
leistete der flämische Franziskanermönch Wilhelm von Rubruk – der 1253 im
Auftrag des Papstes und des französischen Königs Ludwigs IX. zu einer Reise in
den Fernen Osten aufbrach – einen ersten wichtigen klärenden Beitrag, indem er
feststellte, daß es sich bei Kitai und dem Land der Serer um ein und dasselbe
handelte (die betreffende Textstelle in Übersetzung bei F. Risch, Wilhelm von
Rubruk, Leipzig 1934, S. 169ff., zitiert bei W. Franke, a.a.O., S. 12).
Noch im 17. Jhd. war es aber
umstritten, ob das Land Sinae/China – unter diesem Namen (der wohl auf die
indischen Sanskritwörter „cina”, „Cinisthana” zurückgeht) von den Portugiesen
Anfang des 16. Jhd. „neu” entdeckt – mit dem mittelalterlichen Kitai/Cathay
identisch sei. Diese These wurde erstmals 1575 oder 1576 von dem spanischen
Augustinermönch Martin de Rada vertreten, war aber selbst zu Leibniz`Zeiten
noch nicht ganz anerkannt: so erwähnt Leibniz selbst in einem Brief an
Kochanski vom Dezember 1691 (AA I 7, S. 488), daß er nach den Arbeiten des
Jesuiten Martinus Martini und des englischen Orientalisten Jacobus Golius von
der Identität von China und „Cataja” überzeugt sei – eine beiläufige Bemerkung,
die aber zeigt, daß die Frage noch nicht vollständig ausdiskutiert war.
Wie die beiden Stellen in Kap. 1
und 21 der Novissima Sinica-Vorrede zeigen, war Leibniz selbst jedenfalls an
einer möglichst modernen und exakten Bezeichnung für China stark interessiert –
bemerkenswert und verständlich zugleich nach der oben skizzierten
Namensvielfalt der Vergangenheit.
Literatur-Nachweis:
W. Franke, China und das
Abendland, Göttingen 1962, S. 5 – 37.
Artikel „Serer” und „Sinai” im
Kleinen Pauly, Lexikon der Antike, Bd. 5, München 1975.
Artikel „Seres” in RE IIA 2
(1923), Sp. 1678 ff.
Artikel „China” im Reallexikon
für Antike und Christentum, Bd. 2, Stuttgart 1954, Sp. 1078ff.
[12] Jetzt regierender Herrscher. Zar Peter der Große (1689-1725)
war zwar bereits seit dem Tode seines Halbbruders Fjodor (1682) formell
zusammen mit seinem Bruder Iwan Zar, stand aber unter der Regentschaft seiner
Halbschwester Sofja Aleksejewna, die er erst Ende 1689 beseitigen konnte. S.
unten Anm. 26 S; 123. Beim Erscheinen der Novissima Sinica befand sich Peter
der Große (inkognito als Mitglied einer russischen Gesandtschaft) auf Reisen zu
den europäischen Höfen und anschließend nach Holland und England, wo er sich
zum Schiffsbau-Ingenieur ausbilden ließ.
Peter der Große sollte später im
Leben von Leibniz noch eine große Rolle spielen. In mehreren Denkschriften
machte ihm dieser Vorschläge für die Mittler-Rolle Rußlands zwischen dem Westen
und China, für den kulturellen Aufbau und die Bildungs-Organisation des Landes,
für die Erforschung Sibiriens, für die Erforschung der geographischen
Zusammenhänge zwischen der Ostspitze Sibiriens und Amerikas (in Vorwegnahme der
späteren auf Veranlassung Peters des Großen Forschungsreise von Vitus Jonassen
Bering, der 1728 die nach ihm benannte Beringstraße entdeckte), war der
Initiator der späteren Russischen Akademie der Wissenschaften und hatte mehrere
Begegnungen mit Peter dem Großen, begleitete ihn auch auf einer Reise durch
Deutschland und wurde durch Erlaß des Zaren vom 1. 11. 1712 russischer
„Geheimer Justizrat”. Grundlage ist immer noch das 1873 in St. Petersburg und
Leipzig erschienene Buch von W. Guerrier, Leibniz in seinen Beziehungen zu
Rußland und Peter den Großen, der das gesamte Material einschließlich der
Konzepte der Denkschriften von der Hand von Leibniz und aller einschlägigen
Briefe aus dem Nachlaß, der sich in der Niedersächsischen Landesbibliothek in
Hannover befindet, veröffentlicht hat. S. außerdem R. Witsram, Peter der Große,
Der Eintritt Rußlands in die Neuzeit, Berlin 1954.
[13] Unterstützender
Patriarch. Das Haupt der von Rom unabhängigen russisch-orthodoxen Kirche war zu
dieser Zeit der Patriarch Adrian in Moskau. Peter der Große war bestrebt, den
Einfluß des Patriarchen immer mehr zu verringern. Praktisch unterstellte er
bereits 1700 das Patriarchat dem Staat und ersetzte es 1721 auch formell durch
die Synode.
[14] Zahl seiner Bewohner.
Nach Michel Cartier, Artikel „Bevölkerung” im China-Handbuch Düsseldorf 1974,
S. 133-138 (mit weiteren Literaturangaben), betrug die Bevölkerung in China um 1300
n.d.Z. etwa 100 – 120 Millionen, davon 40 % in den Südprovinzen, um 1700 waren
es 140 Millionen, 1830 400 Millionen, 1953 582 Millionen, und heute sind es 950
Millionen bis 1 Milliarde Menschen. Der Bevölkerungszuwachs ist sicher für die
Zukunft Chinas eines der entscheidendsten Probleme, da Produktion, Häuserbau,
Infrastruktur usw. eine Bevölkerungszunahme von 12-14 Millionen Menschen
jährlich nur unter großen Anstrengungen bewältigen können.
Leibniz hatte eine noch größere
Zahl der damaligen Bevölkerung Chinas im Auge. Wir zitieren aus dem Brief des
gelehrten Antwerpener Jesuiten Daniel Papebroch an Leibniz vom 11. 8. 1687
(Akademie-Ausgabe I, 4, S. 646 Nr. 542; Übersetzung aus dem Lateinischen): „In
ganz China versorgen höchstens 30 Patres 200 und mehr in diesem einen
Jahrhundert von ihnen errichtete Kirchen und ungefähr 24000 Christen, die in
diesen Kirchen zusammenkommen und durch jenes ungeheuer riesige Reich verstreut
sind. Eine große Anzahl, wenn man den zahlenmäßig geringen Einsatz vergleicht;
aber noch jene Zahl bedeutet eine beklagenswerte Winzigkeit in diesem Land, wo
außer Frauen und Kindern mehr als 58 Mio. Männer gezählt werden.” Zählt man
Frauen und je zwei Kinder hinzu, so kommt man bereits auf mehr als 200 Mio.
Menschen in China in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Bemerkenswert
ist, daß Papebroch eine „Zählung”, nicht eine „Schätzung” erwähnt.
Zum Vergleich sei bemerkt, daß
nach Buchholz in Bevölkerungs-Ploetz 1955, III S. 15 die Bevölkerung Europas
für 1650 etwa 100 Mio., diejenige ganz Asiens damals 300 Mio. Menschen betragen
haben soll.
[15] contemplatione formarum, übersetzt mit „Erfassung der
Formen”, und zwar in der von Leibniz beabsichtigten Anlehnung an Aristoteles
(384 – 322 v.d.Z.), bei dem die Form im Gegensatz zum Stofflichen das innere
Wesen und als solches die Ursache der äußeren Gestalt ist. Im Gegensatz zur
platonischen Idee ist bei Aristoteles die Entelechie die Form, die sich im
Stoff verwirklicht = Energie, die im Organismus liegende Kraft, die den Stoff
von innen heraus zur Selbstentwicklung und -vollendung bringt. Dementsprechend
bezeichnet Aristoteles (de anima II 1 412a) die Seele als die erste Entelechie
eines organischen, lebensfähigen Körpers. Von Leibniz wird der aristotelische
Gedanke in seinen Nouveaux Essais und schließlich in seiner Monadologie
weiterentwickelt.
[16] Geometria. Wir haben stets mit Mathematik übersetzt, obwohl
uns bekannt ist, daß zu Zeiten von Leibniz der Begriff der der Geometrie
übergeordneten Mathematik sich noch nicht überall durchgesetzt hatte. Zur
reinen Mathematik im heutigen Wissenschafts-Verständnis gehören die Algebra,
Zahlentheorie, Analysis, Geometrie, Topologie, Mengenlehre und
Grundlagenforschung. Während bei den Missionaren zumeist angewandte Mathematik
getrieben wurde, haben wir „Geometrie” im Sinne eines Zweiges der reinen
Mathematik mit dem Oberbegriff Mathematik übersetzt.
[17] Homo homini lupus. Die wohl früheste Verwendung dieses
sprichwörtlich gewordenen Satzes findet sich bei dem römischen Komödiendichter
Plautus (3./2. Jhd. v.d.Z., gestorben 184 v.d.Z.) in seiner Komödie „Asinaria”,
V. 495. Möglicherweise geht der Satz aber auf griechische Komödien zurück, die
Plautus als Vorlage dienten.
[18] Höflichkeitspflichten. Es ist ganz erstaunlich, wie sehr
Leibniz lediglich auf Grund der Beschreibungen der Jesuiten ohne eigene
Erfahrungen in den Kern der chinesischen Höflichkeitszeremonie eingedrungen
ist. Wir haben die Höflichkeit, die auch heute noch jede Begegnung mit Chinesen
in China selber oder im Auslande durchdringt, als „Herzenshöflichkeit”
bezeichnet, die mehr ist als innere Form. Vgl. auch Reinbothe, Verhalten in
China, in: Wirtschaftspartner China, Institut für Auslandsbeziehungen, 3,
Stuttgart 1973, S. 115-11T.
[19] Mandarinen. Nach Brockhaus ist die Herkunft des Wortes
unsicher, ursprünglich portugiesische Bezeichnung für einheimische Würdenträger
in Hinterindien, dann europäischer Name für chinesische Staatsbeamte (chines.
Kuan). Es gab 9 Ränge. Mitglieder der drei obersten Ränge, die zumeist die
höchste Staatsprüfung bestanden haben mußten, gehörten der Zentralregierung als
Leiter der sechs Ministerien oder dem Staatsrat an oder hatten andere führende
Stellungen in der Zentral- oder den Provinzialregierungen. Die Beamten hatten
eine Schlüsselstellung zwischen dem Kaiser und der politischen Führungsschicht
der lokalen Gemeinden, standen gesellschaftlich in hohem Ansehen und genossen
Privilegien. Nach Endymion Wilkinson, Artikel „Beamte” im China-Handbuch, soll
die Zahl aller Beamten in der Mitte des 19. Jahrhunderts 20000 auf dem zivilen
und 7000 auf dem militärischen Sektor betragen haben und erst nach der
Taiping-Revolution auf 150000 angestiegen sein, im Verhältnis zu der Größe des
Reiches eine geringe Zahl. Allerdings sind die lokalen Angestellten (ohne
Beamtenrang) nicht mit eingerechnet. Mehr als die Hälfte der Beamten waren
Beamte „zur Beaufsichtigung der Beamten”, erst die 2000 Kreisbeamten waren
Beamte „zur Beaufsichtigung des Volkes”.
Theoretisch stand die
Beamtenlaufbahn allen offen, wenn sie nur die drei Prüfungen (s. Anm. 25)
bestanden, praktisch war sie in den früheren Zeiten ein Monopol der lokalen
Gentry, deren etwa unfähige oder ungeeignete Mitglieder zumeist an den
Prüfungen scheiterten. Die Gentry stand also hier unter einer ständigen
Bewährungsprobe. Ihre Einrichtung brach letzten Endes auch den Einfluß aller
lokalen oder provinziellen Machtgruppen, da der Beamte immer dem Kaiser
verpflichtet war. Das chinesische Beamtentum (wie auch die Prüfungen) wurden im
Aufklärungszeitalter des Westens das Vorbild für das Berufsbeamtentum mit
seiner ethischen Bindung an die überpersönliche Einheit des Staates, der auf
den Macht-, Wohlfahrts- und Rechtsgedanken der Aufklärung gegründet war.
Besonders England wurde durch die Chinesen in der Entwicklung seiner bekannten
tüchtigen geräuschlosen Bürokratie gerade in Indien und anderen Ländern von den
Chinesen beeinflußt. Eine umfassende Geschichte und Darstellung dieser
Einflüsse haben wir bisher nicht ermitteln können, wahrscheinlich muß sie erst
geschrieben werden.
[20] Ko-lao – Staatsrat = Mitglieder des Rates der Ältesten, des
Nei-Ko. Den Staatsräten unterstanden sechs Staatsministerien, und zwar a) das
Li Pu – Innenministerium mit Jurisdiktion über sämtliche Beamten des Reiches,
von dem Jesuiten de Magalhaes 1688 mit 13647 Zivil- und 18520 Militärbeamten
angegeben, b) Hu Pu – das Finanzministerium, c) Li Pu – das Kultusministerium.
Zu den untergeordneten Behörden gehörten die Ämter für das Fremdenwesen und für
die ausländischen Gesandtschaften, d) Ping Pu – Wehrministerium, e) Hsing Pu –
Justizministerium, f) Kung Pu – Ministerium für öffentliche Arbeiten, in dem
Jesuiten öfters als technisch anerkannte Fachleute die Leitung oder
Stellvertretung übernahmen.
An der Spitze jedes Ministeriums
standen Minister, denen Stellvertreter und Beisitzer beigegeben waren. Vgl.
hierzu George H. Dunne, Das große Exempel, die China-Mission der Jesuiten,
Stuttgart 1965, S. 74, sowie Ulrich Hammitzsch und Oscar Weggel, Artikel
„Zentralregierung” im China-Handbuch, Düsseldorf 1974, S. 1611-1620 mit Literatur-Angaben.
[21] Nach Auskunft von M. Boetzke, Theatermuseum des Instituts für
Theaterwissenschaft der Universität zu Köln, handelt es sich wahrscheinlich um
die Stegreif-Komödie „Arlequin, Empereur dans la Lune” von N. de Patouville, die
zuerst am 5. 3. 1684 in Paris aufgeführt wurde. In der letzten Szene erzählt
Harlekin, der sich als angeblicher Kaiser des Mondes verkleidet hat, um besser
auf Brautschau gehen zu können, von den üblen Seiten des Mondlebens, wobei
Kolumbine (die weibliche Standardfigur der Harlekinstücke) jedesmal kurz
dazwischenruft: „C`est tout comme ici” – das ist ja alles wie hier bei uns.
Möglicherweise hat Leibniz eine Aufführung des Stückes in Celle nach 1690
gesehen. Jedenfalls war das Stück weit verbreitet und allgemein bekannt, wenn
Leibniz so ohne weiteres gegenüber seinen zeitgenössischen Lesern darauf
anspielen kann.
[22] K`ang-hsi (1654 –
1722), der 2. Mandschu-Kaiser, der bereits als Vierzehnjähriger (1667) die
Regierung übernahm. Er ist die zentrale Figur der Betrachtungen von Leibniz,
der ihn vielleicht aufgrund der Beschreibungen der Jesuiten etwas überzeichnet
sah – immerhin wollten die Jesuiten ja bei ihm auch für das Christentum ihre
Ziele erreichen. Aber er ist tatsächlich auch eine der bemerkenswertesten
Persönlichkeiten der chinesischen Geschichte mit einer der längsten
Regierungszeiten. Hervorzuheben sind seine Aufgeschlossenheit für alle
geistigen Bestrebungen, auch gegenüber der westlichen Wissenschaft wie
Mathematik oder Astronomie, seine Weitsicht und Sorgfalt z. B. in der
Vorbereitung der Verhandlungen mit den Russen bei Nertschinsk – s. unten S. 100
– oder der Organisierung der Regulierungsarbeiten am Huangho und am
Kaiserkanal, die er selber vorbereitete und überwachte. Oder die von ihm stets sorgfältig
vorbereiteten militärischen Expeditionen gegen Rebellen oder die mongolischen
Ölöd. Seine Unvoreingenommenheit gegenüber den Jesuiten und seine Dankbarkeit
für ihm einmal erwiesene Dienste muß besonders hervorgehoben werden.
Schließlich ist auch das Toleranz-Edikt vom 22.3. 1692, das den Christen freie
Mission gewährte, u. a. auf diese Dankbarkeit – einem echt chinesischen Zug –
zurückzuführen. Geradezu rührend muten seine Bestrebungen an, die Zänkereien
und Streitigkeiten unter den Missionaren zu schlichten, selber an derartigen
Auseinandersetzungen teilzunehmen und sogar durch Gesandtschaften den Papst in
Rom zu einem die chinesischen Belange berücksichtigenden Verhalten zu
beeinflussen. Seine Nachgiebigkeit und Duldsamkeit den Jesuiten gegenüber ging
so weit, daß sein ihm nachfolgender wesentlich realistischer eingestellter Sohn
Kaiser Yung Cheng mehreren Jesuiten in einem Gespräch sagen konnte: „Der
Kaiser, mein Vater, verlor zu einem großen Teil seinen Ruf durch seine
Leutseligkeit, mit der er Euch (d. h. die Jesuiten) gewähren ließ. Die Gesetze
Eurer alten Weisen lassen keine Änderung zu und ich habe nicht die Absicht,
meine Regierung mit derartigen Dingen zu belasten.” Zitiert aus
Arnold H. Rowbotham, Missionary and Mandarin, the Jesuits at the court of
China, Los Angeles 1942, S. 178.
[23] Annalen sind
Jahrbücher, in denen die geschichtlichen Ereignisse (der Gegenwart) in
zeitlicher Reihenfolge für die Nachwelt aufgezeichnet werden. Sie waren bereits
im alten Ägypten, Assyrien, bei Juden, Römern und Javanern gebräuchlich, sind
aber am weitesten ausgebildet worden von den Chinesen. Die erste vollständige
Chronik ist in den im 1. Jahrhundert v.d.Z. aufgezeichneten Frühling- und
Herbst-Annalen Tsch`un-ts`in vorhanden (die von vielen Autoren Konfuzius zugeschrieben
werden). Sie umfaßt die Zeit 722 – 481 v.d.Z., ist aber unter
moralisch-philosophischen Maßstäben zusammengestellt. Das Tsch’un-Ts’in wurde
für die Tschou-Zeit von dem Ku’ki Shu-ching (Buch der Urkunden) und den drei
Ritualwerken Li-chi, Chou-li und I-li fortgesetzt. Den Abschluß bilden die
„Denkwürdigkeiten” des Historiographen (Shi-chi) Ssu-ma T’an und seines Sohnes
Ssu-ma Ch’ien. In der 2. Hälfte des 1. Jhd. n d.Z. erscheint sodann die von Pan
Ku verfaßte Geschichte der Han-Dynastie (Han-shu). Bereits in der
T’ang-Dynastie wurde 629 n.d.Z. das Historiographenamt (shih-kuan)
eingerichtet, später der Han Lin-Akademie angegliedert. Damit begann die
Institutionalisierung der amtlichen Geschichtsschreibung, von Beamten
ausgeführt. Es sammelt alle Materialien über die Begebenheiten der Zeit, für
die zukünftige Abfassung der Geschichte der herrschenden Dynastie, ist also
gleichzeitig das Reichs-Archiv; es verfaßt Tagebücher über alle Äußerungen und
Handlungen des Kaisers; die in den Audienzen zur Sprache gebrachten
Angelegenheiten; die kaiserlichen Audienzprotokolle; Aufzeichnungen der
laufenden Regierungsangelegenheiten, verarbeitet zu täglichen Berichten und
„Wahrhaftigen Aufzeichnungen” = Regesten. Es wurde auch bereits eine Aufteilung
nach Sachgebieten vorgenommen:
- Religion und Rituale
einschließlich Musik, Opferhandlungen und Gewänder,
- Naturwissenschaften (Kalender,
Astronomie, die Fünf Elemente, kosmische Vorgänge und außergewöhnliche
Erscheinungen),
– Regierung und Verwaltung
(Behörden-Verwaltungsorganisation, Bewässerungs- und Kanalwesen,
Staatswirtschaft und Rechtswesen).
Daneben gab es
Regional-Chroniken für die Provinzen, Präfekturen, Departments und Kreise mit
Biographien der bedeutendsten Persönlichkeiten, topographische Beschreibung der
Gebiete, historische und wirtschaftliche Entwicklung, militärische Ereignisse,
Siedlungsvorgänge, Bevölkerungsstatistik usw. Man zählt über 6000
Regionalbeschreibungen. Diese Chroniken bieten unmittelbar oder in
literarischen Bearbeitungen gleichzeitig den Hauptteil der später so beliebten
chinesischen „Roman”-Literatur und sind zugleich Hauptfundstelle für Therqen
und Texte der meisten klassischen chinesischen „Opern” Pekings wie auch anderer
Provinzen. Die Denkwürdigkeiten Ssu-ma Tans und die Geschichte der Han-Dynastie
wurden Vorbild für die 22 folgenden Dynastie-Geschichten oder
Standard-Geschichtswerke (ed. 1739).
Literatur-Nachweis:
Otto Franke, Geschichte des
Chinesischen Reiches in 5 Bänden, Berlin 1930 – 1952; Wolfgang Franke, Artikel
„Geschichtsschreibung” im China-Handbuch, Düsselforf 1974 mit Literaturangaben.
Nach Wolfgang Franke a.a.O. ist
es beachtenswert, in wie hohem Grade die Historiographen bei aller Abhängigkeit
vom Geist ihrer Zeit und den Wünschen der herrschenden Regierung in der Regel
um eine unvoreingenommene und sachliche Darstellung der Ereignisse bemüht
waren. Wir haben im Westen dem, insbesondere aus neuerer Zeit, nichts
entgegenzusetzen. Einrichtungen wie das deutsche „Archiv der Gegenwart” bemühen
sich durch Dokumentation und Chronik um eine objektive zeitliche Schilderung
der Ereignisse in allen Ländern der Erde, ohne jedoch ein „Archiv” im
wörtlichen Sinne unterhalten zu können. Das Bundesarchiv in Koblenz sammelt nur
für die Bundesrepublik Deutschland, verarbeitet aber nicht. Zur Verarbeitung
der Überflut von Informationen und Literatur auf dem kulturellen und
wissenschaftlichen Gebiet ist neben Fach-Archiven und -speicherungen auch eine
Sammlung nach Ländern, insbesondere aber zur Förderung des Kultur-Austausches
China-Bundesrepublik, dringend erwünscht. Beschränkt zunächst auf
Naturwissenschaften und Technologie einschließlich Medizin, beginnt die VR
China in Wuhan und anderen Universitäts-Städten besondere Sammel- und
Informations-Stellen über die laufende ausländische Literatur (Bücher und
Zeitschriften) einzurichten; ob auch bereits für die Geisteswissenschaften, ist
nicht bekannt. Es ist auch nicht bekannt, ob und in welchem Umfange die früher
übliche Geschichtsschreibung von einem neuen Historiographenamt fortgesetzt
wird. Dafür spricht allerdings, daß nach neuesten Nachrichten auch die alte
chinesische Tradition der Enzyklopädien – seit dem 2. Jhd. veröffentlichte
„Kategorien”-Bücher (lei-shu) = im amtlichen Auftrage geschriebene und nach
Sachgebieten eingeteilte Nachschlagewerke – von der VR China wieder aufgenommen
worden ist. Es sollen zunächst Zusammenstellungen für die einzelnen Sachgebiete
veröffentlicht werden.
[24] Bürokratie. Zu den obersten Behörden vgl. Anm. 20. Die
chinesische Bürokratie hat in den mehreren tausend Jahren der chinesischen
Geschichte eine Reihe von Eigenarten entwickelt, die sie von denjenigen des
Westens unterscheidet. Wie Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 823
ausgeführt hat, hat China überwiegend eine Art von „Kultur-Beamten” herangebildet,
dem im Gegensatz zum Westen Spezialistentum fremd war. Die Rekrutierung der
Beamten aus den führenden Familien blieb vorherrschend und ist auch heute noch
in China dem Vernehmen nach nicht überwunden. Die Vereinheitlichung der Schrift
ist letzten Endes aus den Bedürfnissen der Bürokratie entstanden. Die Formen
des gegenseitigen Verkehrs der einzelnen Behörden und Dienststellen war genau
schriftlich festgelegt, sie blieb dem Schriftverkehr vorbehalten, mündliche
Entscheidungen gab es nicht. Es entwickelte sich die Tendenz der Bürokratie,
sich hinter dem schriftlichen Formalismus zu verschanzen und eine eigene
Verantwortung möglichst zu vermeiden, wobei auch die – noch heute beobachtete –
Übung beitrug, Schriftstücke und Erlasse möglichst nicht mit Namen zu
unterschreiben, sondern lediglich zu stempeln oder zu siegeln. Hinzu kommt der
chinesische Zeitbegriff und die Neigung, Entscheidungen aus dem Wege zu gehen
und zunächst erst einmal alles zu diskutieren.
Der chinesische Staat war also
ein Beamtenstaat. Die Eigenständigkeit von sozialen Gruppen wurde nicht
anerkannt. Das Land wurde von oben regiert. Die endlose Verschleppung von
Entscheidungen wurde von der Bevölkerung immer wieder kritisiert, jedoch kaum
geändert. Das Gefährliche ist, daß sich die alte Tradition der chinesischen
Bürokratie nunmehr auch in den Betrieben und Wirtschaftsverwaltungen
festgesetzt hat, sehr zum Schaden schneller, effektiver Entscheidungen. Während
die westliche Bürokratie durch immer mehr verfeinerte Vorschriften mit Rechtsstaatsgarantien
auch für den einzelnen versehen wurde und eine Überprüfung aller
Verwaltungs-Entscheidungen durch die Verfassung (das Grundgesetz) garantiert
ist, fehlt es in China immer noch an der Ausbildung eines Verwaltungs- und
eines richterlichen Prüfungsrechts, allen Grundsätzen der neuen Verfassung zum
Trotz, die wenigstens für den einzelnen die Möglichkeit von Eingaben,
Beschwerden an die höheren Dienststellen, Petitionen usw. grundsätzlich
geschaffen hat, ohne allerdings für ausreichende Realisierung zu sorgen.
Die pessimistische Voraussage
von Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 842, daß die modernen Staaten
letzten Endes an der Überwucherung ihrer Bürokratie zugrunde gehen werden,
teilen wir nicht. Allerdings wird es hier großzügiger Reformen bedürfen, im
Westen wie in China, jedoch mit verschiedenen Inhalten und Zielsetzungen, die
sich aus der unterschiedlichen Geschichte und gesellschaftlichen Struktur des
Westens und Chinas ergeben. Siehe im übrigen auch den Artikel „Bürokratie” von
Hammitzsch, China-Handbuch, S. 187-190 mit Literaturangaben. Eine
wissenschaftliche Phänomenologie der chinesischen und auch der westlichen
Bürokratie unter Einbeziehung ihrer Geschichte und gegenseitigen Beeinflussung
und gegenseitigem Vergleich wäre nach unserer Auffassung erforderlich, zumal
von einer Reformierung auf beiden Seiten die weitere gesellschaftliche
Entwicklung wesentlich abhängig ist. Als Phänomene seien genannt: in China der
Obrigkeitsgedanke, der das gesellschaftliche und politische Gefüge zusammenhält,
die Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber der Obrigkeit, der vertikale
Zentralismus, der eine Zusammenarbeit der Behörden auf horizontaler Ebene
erschwert, der schriftliche Formalismus, der eine mündliche oder telefonische
Entscheidung nicht zuläßt, die Beamtenhierarchie, die den Untergebenen nicht zu
Wort kommen läßt; im Westen das Überziehen des gesamten öffentlichen Lebens mit
staatlichen, halbstaatlichen, privaten Verbands-Apparaten, das Bestreben dieser
Apparate zu Verselbständigung, Eigenmacht und Ausdehnung, der Perfektionismus,
der alles mit Bestimmungen regeln will, die Überheblichkeit des auf speziellen
Fachgebieten tätigen Beamten, der alles besser weiß, das mangelnde
Informationsrecht des Einzelnen, die mangelnde Transparenz der Apparate, die
zunehmende Ohnmacht des Einzelnen, sich gegenüber der verbeamteten
Offentlichkeit noch zu Gehör zu bringen, die Lähmung der Initiative des
einzelnen Staatsbürgers in öffentlichen Angelegenheiten.
[25] Prüfungen. Das chinesische Prüfungssystem geht zurück auf die
Bestrebungen der Han-Kaiser (206 v.d.Z. – 220 n.d.Z.), ihre Macht nicht auf den
erblichen Adel, sondern eine ihnen ergebene, qualifizierte Beamtenschaft zu
stützen. Das Prüfungssystem, das bis 1904 unverändert beibehalten wurde, kannte
Vorexamen in den Kreishauptstädten und Präfekturen und eine Hauptprüfung in
Peking, Prüfungen, die alle drei Jahre stattfanden, und zwar in Peking unter
Vorsitz des Kultusministers und zuletzt des Kaisers, wobei das Bestehen der
Hauptprüfung die Einberufung in höchste Staatsämter nach sich zog. Jede Prüfung
bestand in einer größeren Zahl von Aufsätzen in Prosa und in Versen, deren
Themen und sprachliche Formalia den klassischen Schriften entnommen waren. Die
Ausdehnung auf naturwissenschaftliche, mathematische Fächer oder ausländische
Angelegenheiten wurde noch im 19. Jahrhundert abgelehnt. Verbindlicher Maßstab
hierbei war der Konfuzianismus. Der Mandarin sollte in erster Linie ein an der
klassischen chinesischen Literatur gebildeter Humanist sein, vor allem bei der
Ausübung seiner Dienstobliegenheiten, wobei er die Tagesarbeit seinen
Kanzleibeamten überließ. Max Weber nennt ihn in „Wirtschaft und Gesellschaft”
(S. 823 ff.) schlicht „Kultur-Beamten” im Gegensatz zu dem im Westen
ausgeprägten „Fach-Beamten”, der stets Spezialfunktionen selber auszuüben hat
und seine Ausbildung im Wesentlichen in spezialisierten Fachbereichen erhält.
[26] Schriftzeichen. Die
chinesische Bilderschrift, zunächst gegenständlich entstanden (als Abbild von
Gegenständen, wenn auch in abstrakter Zeichnung), später den Gegenstandswert
aufgebend, drückt ganze Worte (mit ihrem Begriffs-, Gefühls- und sinnlichen
Umweltsbezug) aus im Gegensatz zu der westlichen Buchstaben-Schrift. Die
Aneinanderreihung von Worten ohne Beugung (Deklination) und unter Verzicht auf
viele bei uns vorhandenen Partikel verführt bereits in ihrer Anlage zu
dichterischen Kombinationen. Die von der Hand (mit Tusche) geschriebene Schrift
vermag durch den Duktus des Pinsels, die verschiedene Breite der Bestandteile
der einzelnen Zeichen usw. den persönlichen Ausdruck des Schreibers in ganz
anderer Weise zu vermitteln, als es die mechanische Typisierung und stete
Wiederholung der einmal (früher) in Holz geschnittenen, jetzt in Metall
gegossenen Schriftzeichen vermag. Persönlich gehaltene und geschriebene
Äußerungen in hymnischer oder Gedicht-Form waren stets in China der Ausdruck
bedeutender, auch offizieller Persönlichkeiten, die regierenden Kaiser nicht
ausgenommen. Wir verweisen z. B. auf die von Mao Zedong selbst geschriebenen und
verfaßten Gedichte – deutsche Übertragung bei Schickel, Mao Tse-tung, 37
Gedichte, München 1979, oder auf den in der Öffentlichkeit vollzogenen
Gedicht-Wechsel zwischen Mao und Kuo Mo-jo. Bereits die Nestorianische Stele
(s. S. 127) erzählt uns von vom Kaiser selber geschriebenen Widmungen, die in
den nestorianischen Kirchen aufgestellt wurden. Die intuitive Erfassung dieser
Phänomene durch Leibniz an der vorliegenden Stelle ist besonders bemerkenswert.
Zur Literatur verweisen wir auf
die Artikel „Schrift und Schriftreform” und „Schriftkunst”, Zdenka
Hermanova-Novotna und Lothar Ledderose im China-Handbuch, S. 1177 – 1188 mit
Literaturangaben. Das bei uns gebräuchliche Wort „Kalligraphie” betont
lediglich die ästhetische Seite und gibt die Bedeutung des Handgeschriebenen in
China – schon das Wort „Kunst” ist trügerisch – nur unzulänglich wieder. Die
Tatsache, daß Alt und Jung in zahlreichen Ausstellungen alte und neue
handgeschriebene Texte studieren, vergleichen und bewundern, zeigt die
Bedeutung, die „Handschriften” für Chinesen aller Schichten auch heute noch
besitzen.
[27] Das hier von Leibniz
angesprochene Bittgesuch, an dem Kaiser K’ang-hsi selbst maßgeblich beteiligt
gewesen sein soll, wurde den Pekinger Jesuiten laut Soares` Bericht (3. Kapitel
des 2. Teils, in der 2. Auflage der Novissima Sinica von 1699 auf S. 103 f.) am
1. Januar 1692, also nur wenige Monate vor dem eigentlichen Toleranzedikt,
vorgelegt.
[28] Schall von Bell, Johann Adam = T’ang Jo-wang, Tao-Wei 1592
Köln (im Laach am Neumarkt) – 1666 in Peking. Deutscher Jesuit. Der Name „von
Bell” stammt von dem Rittergut Horbell (Marsdorf bei Köln), das heute noch
existiert. Von Macao (Ankunft 1619) ging er zunächst nach Xi’an (1627 – 1630),
wurde 1630 zur Kalenderreform nach Peking berufen und nach glänzend bestandenem
Wettstreit mit den bisherigen chinesischen und arabischen Astronomen von Kaiser
Chun-shih 1645 zum Leiter der Obersten Mathematischen Behörde berufen. Er wurde
Mandarin des 5., später des 1. Grades. Er erbaute die Kirche Nan t’ang im Süden
der Verbotenen Stadt, die nach mehrfachen Zerstörungen immer wieder aufgebaut
wurde, heute noch besteht, zur Zeit von den Lazaristen verwaltet wird und von
dem Verfasser Ende April 1979 in Peking besucht wurde. In dem Nebenhaus befand
sich bis zur Kulturrevolution die mehr als 6500 Bände umfassende, bereits von
Ricci begründete Bibliothek mit wertvollen Drucken des 16. und 17.
Jahrhunderts, über die Mitte des 19. Jahrhunderts ein umfassender gedruckter
Katalog herauskam. Während der Kulturrevolution wurde die Bibliothek in die
Chinesische Nationalbibliothek in Peking überführt, wo sie sich wahrscheinlich
noch heute befindet und westlichen Wissenschaftlern zugänglich gemacht werden
sollte. Auf Grund von Intrigen wurde Schall zusammen mit Verbiest und anderen
1664 ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt, aber nach zwei Jahren
wieder befreit. Erschütternd ist sein Schuldbekenntnis, das er kurz vor seinem
Tode Verbiest diktiert und mit vom Tode gezeichneter Hand noch selbst
unterschrieb, wiedergegeben in der umfassenden und auch heute noch nicht
überholten Biographie von Alfons Väth, Köln 1933, S. 316f.
Schall wurde nach seinem Tode
vom Kaiser K’ang-hsi in seine früheren Würden wieder eingesetzt und voll
rehabilitiert. Zu seinem Grab steuerte der Kaiser wie auch sein Vorgänger schon
bei Matteo Ricci bei. Beide Grabanlagen wurden im Boxeraufstand 1900 zerstört.
Schall hat eine Reihe theologischer, mathematischer, astronomischer Werke –
zumeist in chinesischer Sprache – hinterlassen. Das von Matteo Ricci mitgebrachte
Cembalo fand er verstaubt und vergessen in der kaiserlichen Schatzkammer vor,
hat es wieder instandgesetzt, dem Kaiser vorgespielt und auch wie Ricci für das
Cembalo komponiert; seine Kompositionen sind ebenfalls erhalten. Über sein
Leben hat Schall in einem Tagebuch berichtet. Leider gibt es bis heute keine
wissenschaftliche Ausgabe dieses Tagebuches (nur Bearbeitungen), und auch keine
wissenschaftliche Gesamt-ausgabe seiner Werke und Briefe.
[29] Tataren. Zunächst die umfassende Bezeichnung der Völkerschaften
der von Dschingis Khan (1155 – 1227) und seinen Nachfolgern begründeten Reiche:
erste den Westen erreichende Botschaften über die von den vorstürmenden Horden
verübten Greuel sprachen in Anlehnung an die griechische Mythologie von den
„aus der Hölle losgelassenen Hunden des Tartaros”, daher auch
„Tartaren”-Nachricht (vgl. Gabriel Ronay, The Tartar Khan’s Englishman, London
1978); nach dem Zerfall der „Goldenen Horde” (letzte Schlacht 1502) wurde der
Begriff Tataren auf die Völker Zentralasiens einschließlich der Mongolen und
später auch auf die Sibiriens ausgedehnt. Auf den Karten Chinas – z. B. von
Martini im Novus Atlas Sinensis Köln 1655 – wird das Gebiet nördlich von Peking
und der Großen Mauer, d. h. die heutige Mandschurei, als „Tartarey” bezeichnet.
Schall und Verbiest sprechen vom Imperator „Tartaro-Sinicus”-Kaiser K’ang-hsi
als dem „tartarischen und chinesischen” Kaiser. Verbiest überschreibt seine
mandschurische Grammatik „Elementa linguae tartaricae”. S. Anm. 4.
[30] Le Comte, Louis Daniel = Li Ming Fou Tch’ou 1655 (Bordeaux) –
1728 (Bordeaux) Franzose, Jesuit, Astronom, Naturforscher, Geograph. Er gehörte
zu den sechs Missionaren, die von Ludwig XIV. auf Betreiben und unter Leitung
des Paters Jean de Fontaney aus Frankreich nach China geschickt wurden. Auf der
Schiffsreise nach China beobachtete er u. a. die Jupiter-Monde, später die
Konjunktur von Jupiter und Mars, das Vorbeiziehen des Merkurs an der Sonne, die
Sonnenfinsternis vom März 1687. In Peking, wo er 1688 eintraf, hatte er Unterredungen
mit dem Kaiser K’ang-hsi, mit Fontaney kehrte er 1690 über Kanton und Rom nach
Frankreich zurück. Er wurde sodann Beichtvater der Herzogin von Burgund. Sein Hauptwerk sind
die Nouveaux Memoires sur l`état present de la Chine, 2 Bände, Paris 1696. Auf
seiner Reise nach Kanton entwarf er eine Karte des Flußsystems zwischen Nanking
und Kanton. Er schrieb einen Straßenführer mit allen geographischen
Einzelheiten für den Weg von Ning-pouo nach Peking und von Peking nach
Kiang-tschou.
[31] Pilatus` berühmte Frage nach der Wahrheit, vgl.
Johannesevangelium Kap. 18,38 (dicit ei Pilatus: quid est veritas).
[32] Platon und die
Mathematik: Ohne hier im entferntesten Vollständigkeit auch nur anstreben zu
können, seien doch einige der Stellen genannt, an denen Platon in seinem
umfangreichen philosophischen Werk die Bedeutung der Mathematik bzw. ihrer
Zweigwissenschaften stark hervorhebt und sie an zentrale Positionen seines
staatspolitischen Erziehungsprogrammes setzt: Im 7. Buch der „Politeia”
bespricht Platon die Erziehung der wichtigen und privilegierten Schicht der
„Wächter” seines Staates. Dabei kommen auch die verschiedenen Zweige der
Mathematik zur Sprache, und jedesmal wird festgestellt, daß sie als Führer zur
Wahrheit von großer Bedeutung sind: sowohl Logistik und Arithmetik (Pol. VII
525b1) als auch die Geometrie (527 b 9). Im Dialog „Timaios” (53 b) wird von
der Erschaffung des Kosmos „nach Formen und Zahlen” gesprochen. Ähnlich wie in
der „Politeia” behandelt Platon auch in seinem weiteren Staatsentwurf, den
„Gesetzen”, die Notwendigkeit mathematischer Kenntnisse für die politische
Führungsschicht (Gesetze VII 817c-etwa 822 d; dabei wird auch die notwendige
Kenntnis der Astronomie betont!). Gleichartiges findet sich auch in der
sogenannten „Epinomis” (976e-979 d), bei der die Verfasserschaft Platons heute
zwar umstritten ist, die aber in Leibniz` Zeit sicherlich als echt galt.
Angeblich soll sogar über dem Eingang der Akademie, Platons Philosophenschule
in Athen, der Spruch gestanden haben: „Niemand soll eintreten, der nicht
Kenntnisse in der Mathematik besitzt” (zu finden in zwei
Aristoteles-Kommentaren: Elias in Arist. cat. 118,18; Johannes Philoponus in
Arist. de an. 117,19).
[33] Das „eine Auge”.
Leibniz versucht hier eine tiefgründige Methodenlehre zu begründen, um die
Unterschiede zwischen chinesischer und westlicher Wissenschaft auf ihre
„Ur”-Gründe zurückzuführen: Er unterscheidet zwischen der „exakten”
(westlichen) Wissenschaft und derjenigen der Chinesen, die die exakte
Wissenschaft trotz ihrer seit „einigen tausend Jahren” angestrengten Bemühungen
bisher nicht erreicht hätten. Als das „eine Auge” bezeichnet Leibniz die
Mathematik, als das „andere Auge” der westlichen Wissenschaft die Metaphysik;
s. hierzu auch die nächste Anmerkung. Daß die chinesische „Wissenschaft”
(begründet durch ihre Sprache und Schrift) der westlichen an totaler Erfassung
aller Lebenserscheinungen überlegen ist, wird von dem Begründer der Monadologie
hier nicht zum Ausdruck gebracht, wobei sie sich nach Meinung von Needham,
Science and Civilisation in China, Band II, S. 496 ff. in ihren Wurzeln gerade
u. a. auf die Einsichten von Leibniz in die Kultur Chinas zurückführen läßt. S. auch David
E. Mungello, Leibniz and confucianism, the search for accord, Honolulu 1977, S.
122/123. S. auch unsere Ausführungen im Vorwort S. V über die
Notwendigkeit einer China-Grundlagen-Forschung.
[34] „Erste Philosophie”.
Leibniz nimmt hier wieder Bezug auf Aristoteles (384 – 322 v.d.Z.), der in
seinen Büchern in der Reihenfolge „nach der Physik” = Griechisch: „meta ta
physika” = die „erste Philosophie” oder Sophia (Weisheit) behandelt und sie als
die Wissenschaft von den ersten Prinzipien und Ursachen verstanden wissen will.
S. auch Aristoteles, Metaphysik E 1026a 16. Mit dieser „ersten Philosophie”
beschäftigen sich nach wie vor die moderne Wissenschaftslehre und Metaphysik.
S. z. B. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 1953.
[35] Hedraeus = die griechisch-lateinische Übersetzung des Namens von
Pater François d`Aix de la Chaize (1624 – 1709), dem Beichtvater Ludwigs XIV.
nach 1675 und einem der Initiatoren der Entsendung einer französischen Mission
nach China. Hedra (griechisch) = „Stuhl” = la chaise.
[36] Verjus = Antoine
Verjus (1632 – 1706) stand in lebhafter Korrespondenz mit Leibniz. Er war
Sekretär des Paters de la Chaize, erhielt über ihn wichtige Informationen über
die französische China-Mission, die er an Leibniz weitergab.
[37] Zu den Begriffen natürliche Theologie – geoffenbarte
Theologie vgl. O. Roy, Leibniz et la Chine (mit Originalzitaten aus Leibniz`
Werken), Paris 1972, S. 45 ff. Unter „natürlicher” Theologie versteht Leibniz
eine mehr oder weniger diffuse und noch unvollständige Erkenntnis Gottes und
des Transzendenten. Da der Mensch nicht fähig ist, ganz aus eigener Kraft die
„verstandesmäßige”, rationale Theologie zu erreichen, die ihm die vollkommene
Gotteserkenntnis ermöglichen würde, bedarf er der Offenbarung – für Leibniz
natürlich speziell der christlichen Offenbarung –, um die vollkommene Theologie
zu erreichen. So wie Leibniz sich hier ausdrückt, sind offenbar beide
Komponenten erforderlich, um die rationale Theologie ganz zu verwirklichen. Die
„natürliche” Theologie sah Leibniz wohl im chinesischen Konfuzianismus auf
breiter Basis verwirklicht; sie bedarf aber noch der Vervollkommnung durch die
christliche Offenbarung. Demgegenüber ist es äußerst bemerkenswert, daß nach
Leibniz` Auffassung umgekehrt Europa ein Defizit an „natürlicher Theologie”
aufweist und deshalb auch Chinas bedarf.
[38] Leibniz spielt hier auf das Paris-Urteil an, das in der
griechischen Mythologie eine bedeutende Rolle spielt und dort ein wesentliches
Moment für die Entstehung des Trojanischen Krieges war. Auf der Hochzeit des griechischen
Helden Peleus mit der Meeresgöttin Thetis hatte die nicht zum Fest eingeladene
Göttin der Zwietracht, Eris, einen goldenen Apfel mit der provozierenden
Aufschrift „Der Schönsten!” unter die drei anwesenden Göttinnen Hera, Athene
und Aphrodite geworfen, bei denen daraufhin sofort ein heftiger Streit um
diesen Apfel ausbrach.
Man bestellte den trojanischen
Königssohn Paris zum Schiedsrichter über die Schönheit der drei Göttinnen, und
dieser sprach den Apfel Aphrodite zu, nachdem sie ihm den Besitz der schönsten
Frau der Welt versprochen hatte. Damit war sowohl der spätere Raub der schönen
Helena vorprogrammiert – der Anlaß für den Trojanischen Krieg – als auch die
erbitterte Gegnerschaft, die Hera und Athene gegenüber Paris und den Trojanern
überhaupt in diesem Krieg an den Tag legten. Leibniz` kurze Andeutung weist
darauf hin, daß dieses mythologische Thema den gebildeten Schichten seiner Zeit
wohlbekannt war – sowohl aus der Literatur wie auch aus künstlerischen
Darstellungen.
[39] Arnauld, Antoine (1612-1694), berühmter französischer Jurist
und Jansenist. Er bekämpfte erbittert die Methode der Jesuiten und ihren
theologischen „Modernismus”, mußte Frankreich verlassen, lebte als Flüchtling
in Brüssel und verzehrte sich in seinen Auseinandersetzungen mit den Jesuiten,
Calvinisten und den sich diesen anschließenden Philosophen. S. die 8-bändige
Ausgabe seiner Morale Pratique des Jesuites, Köln 1669 – 1694, Lettres d`un
theologien contre la defense des nouveaus chretiens. Die von Leibniz
erwähnte „Apologie” ist wohl die von Arnauld 1650 geschriebene Apologie pour
les saints Peres de l`Eglise, in der die Lehre des Augustinus im Sinne Jansens
verteidigt wird.
Tavernier, Jean Baptiste (1605 –
1689), ein berühmter französischer Reisender, der am französischen Orienthandel
sich beteiligte und hierdurch reich wurde und auf seinen Reisen den
französischen Orienthandel zu fördern sich bemühte. Dies erregte den Argwohn
der Holländer, die ihm jede Schwierigkeit in den Weg legten, weil sie für ihre
Handelsmonopole in Indien und Japan fürchteten. Seine „Vierzig-Jährige
Reise-Beschreibung” Nürnberg 1681, machte einen großen Eindruck auf den
kurfürstlichen Hof von Brandenburg. Tavernier wurde einer der ersten Leiter der
Brandenburgischen Ost-Asien-Kompagnie, die gegründet wurde, aber bereits bald
ihre Tätigkeit einstellen mußte, da sie sich gegen die anderen Kolonialmächte
und deren Gesellschaften nicht behaupten konnte. Tavernier arbeitete auch für
den Großen Kurfürsten Pläne für Reisen in den Fernen Osten aus, die gleichfalls
nicht realisiert werden konnten.
[40] Paulus. Leibniz meint die Stelle im 1. Brief des Apostel
Paulus an die Korinther Kapitel 9 Vers 22: „Den Schwachen bin ich geworden ein
Schwacher, auf daß ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, um
etliche selig machen zu können.” Vgl. im griechischen Text: „tois pasin gegona
panta hina pantos tinas soso” („damit ich einige völlig in allem retten kann”).
Man kann (mit Dunne, a.a.O.) diese Ausführungen des Paulus als die Magna Charta
der Heidenmission überhaupt ansehen, und zwar nicht nur in der
hellenistisch-römischen Zeit, als Paulus den Übergang von der Juden-Mission zur
Heidenmission bewirkte, sondern auch für die Auslands-Mission der Neuzeit, so
daß Leibniz sich also hier zu Recht auf Paulus beruft.
[41] Im Laufe der 2. Hälfte
des 17. Jhd. kam es zwischen England und den Niederlanden zu einer Reihe von
Seekriegen, die sich auch im kolonialen Raum, vor allem aber in der Nordsee und
im Englischen Kanal abspielten. Zum ersten englisch-holländischen Seekrieg kam
es 1652, nachdem die 1651 erlassene englische „Navigationsakte” versucht hatte,
den holländischen Zwischenhandel zwischen England und dem Kontinent
auszuschalten. Der Krieg endete nach englischen Erfolgen 1654 mit einem
Friedensvertrag, doch kam es schon 1664-1667 zur nächsten Auseinandersetzung:
in ihrem Verlauf konnten die Engländer zwar in Nordamerika 1664 Neu-Amsterdam,
das spätere New York, sowie die Kolonien New Jersey und Delaware erobern,
mußten aber andererseits empfindliche Verluste hinnehmen, als die holländische
Flotte 1667 in kühnem Vorstoß die Themse hinauffuhr und bei Chatham eine große
Anzahl englischer Kriegsschiffe verbrannte. In Asien mußte England sich
endgültig aus dem indonesischen Raum zurückziehen (Abtretung des Stützpunktes Poeloe
Run), doch wurde die englische Position in Indien stabilisiert. Weitere
Rückschläge erlitten die Engländer auch im Dritten englisch-holländischen
Seekrieg 1672/73, als vorübergehend sogar die neugewonnenen nordamerikanischen
Kolonien aufgegeben werden mußten. Zu einer ersten Annäherung zwischen beiden
Staaten kam es dann 1677 mit der Heirat zwischen Maria, der Nichte des
englischen Königs Karl II., und Wilhelm III. von Oranien, dem Statthalter der
Niederlande; 1678 wird ein offizielles Verteidigungsbündnis zwischen England
und den Niederlanden geschlossen. Seit 1688, dem Jahr der „Glorious
Revolution”, stehen die beiden Länder mit Wilhelm III. sogar unter einem
gemeinsamen Staatsoberhaupt. In dieser Zeit und in der Folge steht England
immer auf der holländischen Seite gegen Frankreich, während es vorher meist mit
Frankreich gegen die Niederlande optiert hatte (noch 1672 war England an der
französischen Landoffensive gegen Holland beteiligt). Gleichwohl dürften mit
der Personalunion die beiderseitigen Rivalitäten in den Kolonien Süd- und
Südostasiens nicht ausgeräumt worden sein. Doch konnten die Niederländer ihre
indonesischen Stützpunkte behaupten bzw. ausbauen (s. o.), während England auf
den indischen Raum beschränkt blieb.
Die lobende Einschätzung, die
Leibniz von der englischen und holländischen Missionstätigkeit gibt, dürfte
wohl etwas zu optimistisch sein: sowohl Engländer als auch Niederländer waren
damals primär an einem lukrativen Handel interessiert. Leibniz hat an anderer
Stelle selbst brieflich das geringe missionarische Engagement der beiden Länder
beklagt (vgl. Lach, a.a.O., S. 41).
[42] Sofern nur erst Europa
der Friede zurückgegeben ist. Leibniz denkt nach den Eroberungszügen Ludwigs
XIV. – 1693 wurde das Heidelberger Schloß verbrannt – doch wohl an die Große
Allianz, die 1697 im Frieden von Ryswijk Frankreich zum Frieden zwingen konnte,
und nicht so sehr an die Türkenkriege, die durch den Frieden von Karlowitz 1697
beendet wurden. Immerhin geben die Angaben von Leibniz Anhaltspunkte für die Datierung
der ersten Druckausgabe der Novissima: sie muß nach dem russisch-habsburgischen
Vertrag vom 8. 2. 1697 und vor dem Frieden von Ryswijk vom 20. 9./30. 10. 1697
erschienen sein.
[43] Dieu, Louis de (1570 –
1642) war ein berühmter Orientalist und Theologe der Universität Leiden. 1639
erschien sein Werk Historia Christi et St. Petri Persice conscripta = eine
persische Bibel-Übersetzung.
[44] Abessinien, heute etwa
Äthiopien. König Ezana von Aksum trat 350 n.d.Z. zum Christentum über, das er
zur Staatsreligion erhob. Unter syrischem und koptischem Einfluß war und blieb
die Kirche bis heute monophysitisch, d. h., in der Glaubensformel wurde die
unvermischte Einheit der beiden Naturen in der einen göttlichen Person des
Gottmenschen Jesus Christus bekannt. Die christlich-orthodoxe äthiopische
Kirche hatte zuletzt etwa 8 Mio. Gläubige, zahlreiche Kirchen und Klöster.
Gegen den anstürmenden Islam rief bereits der Negus Zare Yaqol (1434 – 1468)
König Alfons von Portugal um Hilfe an. Papst Eugen IV. stellte zur Bedingung,
daß sich die äthiopische der Katholischen Kirche anschlösse. Statt
militärischer Hilfe sandte Portugal zunächst nur Missionare. Erst unter
Christofor da Gama (einem Sohn Vasco da Gamas) kamen portugiesische Truppen dem
Kaiser David II. zur Hilfe. Erst unter seinem Nachfolger Kaiser Claudius (1540
– 1559) gelang es mit portugiesischer Hilfe, in der Schlacht am Tana-See die
islamischen Eindringlinge zu besiegen. Die katholischen Missionare gründeten
Kirchen und Klöster und gewannen immer mehr an Einfluß. Kaiser Susenyus
(1607-1632) trat sogar zum katholischen Glauben über und versuchte, seine
Untertanen und Priester zum Glaubensübertritt zu zwingen. Es kam zu einem
blutigen inneren Religionskrieg, in dem der Sohn des Kaisers Kronprinz
Fasiladas die andere Seite führte. Als der Kaiser, der in der
Entscheidungsschlacht selber die Reiterei siegreich geführt hatte, die 8000
Toten seiner Kampagne auf dem Schlachtfeld liegen sah, entschloß er sich, die
alte Religion wieder einzuführen mit dem Edikt vom 14.6. 1632:
„Höret! Höret! Höret! Zuerst
haben Wir euch den katholischen Glauben vorgeschlagen, weil Wir ihn für gut
hielten. Aber eine unzählige Menge von Menschen ist nun zugrunde gegangen, weil
sie gegen diesen Glauben kämpften, unter ihnen Älius, Gabrael, Tekla Georgis,
Sertza Christos und schließlich dieses rauhe Bergvolk von Lasta. Deshalb
gewähren Wir euch wieder die Religion Eurer Vorväter. In Zukunft sollen die
Priester des alexandrinischen Bekenntnisses wieder ihre Kirchen betreten, ihre
eucharistischen Altäre haben und ihre Liturgie lesen nach altem Brauche. Gehabt
euch wohl und freuet euch! Was mich aber betrifft, so bin ich jetzt alt, durch
Kriege und Gebrechlichkeit erschöpft und nicht länger fähig zu herrschen. Ich
ernenne meinen Sohn Fasiladas zu meinem Nachfolger.”
[45] Das Zitat aus Verbiests Astronomiebuch: Das von Leibniz fast
wörtlich übernommene Zitat findet sich in der europäischen Ausgabe von
Verbiests Buch („Astronomia Europaea sub Imperator Tartaro-Sinico Cam Hy
appellato ex umbra in lucem revocata, a R.P. Ferdinando Verbiest Flandro-Belga
e Societate Jesu, Academiae Astronomicae in Regia Pekinensi Praefecto”,
Dillingen 1687) auf S. 56f.: „tum ut ostendam, quomodo Uranie Europaea Regales
animos primum dignata sit movere...” („dann um zu zeigen, wie die europäische
Muse Urania zum ersten Mal geruht hat, das Herz des Herrschers zu
beeinflussen...”). Das Zitat findet sich auch in Leibniz` Exzerpt des
Astronomiebuches in den Novissima Sinica selbst (1. Auf 1. 1697, S. 165; 2.
Aufl. 1699, S. 155): „Ita Uranie Europaea Regales animos primum dignata movere
magnam maiorum successuum spem fecit” („So hat die europäische Muse Urania, die
zum ersten Mal geruht hat, das Herz des Herrschers zu beeinflussen, große
Hoffnung auf noch größere Erfolge gemacht”). Urania ist unter den neun Musen
diejenige der Astronomie. Auch in diesem Fall ist die allgemeine Kenntnis
dieser mythologischen Vorstellung beim Leserpublikum vorausgesetzt.
[46] Ricci, Matteo = Li
Ma-teou, Si-T’ai. 1552 (Macerata 150 km nö von Rom) – 1610 (Peking) Italiener,
Jesuit. 1583 Kanton, dann Shiuhing, Shiuchow, Nanking, Nantchang, seit
1601 Peking. In Rom war er mehrere Jahre Schüler des berühmten Astronomen und
Mathematikers Christoph Clavius (aus Bamberg stammend), dessen Euklid-Ausgabe
200 Jahre lang als Standard-Lehrbuch für junge Mathematiker diente. Chinesisch
begann Ricci in Macao zu lernen. Man kann Ricci als den größten katholischen
Missionar in China bezeichnen, der den Weg für seine Nachfolger überhaupt erst
bereitet hat, als erster die Abneigung der Chinesen gegen Ausländer und
Barbaren überwand dadurch, daß er einen chinesischen Namen annahm – ein Brauch,
dem dann alle anderen Missionare folgten – und sich in seiner ganzen
Lebensweise und allen äußeren Gewohnheiten anpaßte, das Höflichkeitszeremoniell
annahm, zunächst die Kleidung eines buddhistischen Priesters (Bonzen) anlegte,
das aber bald aufgab und sich als chinesischer Literat kleidete. Er machte sich
mit den chinesischen Klassikern vertraut, nahm an Diskussionen mit anderen
Literaten (z.B. in Nanking) teil, wurde in die Kreise der Literaten der
einzelnen Städte aufgenommen und gewann durch seine sanfte, freundliche Art
überall persönliche Freunde und Achtung bis in die höchsten Schichten, was ihm
später in Peking und bei der Bekehrung höchster Mandarine und Angehöriger der
kaiserlichen Familie sehr zustatten kam.
Dem Kaiser von China brachte er
Geschenke des Herzogs Maximilian von Bayern mit, darunter auch ein Cembalo
(Spinett), das er den Kaiser zu spielen lehrte und für das er eigene Kompositionen
schrieb, die heute noch erhalten sind.
Am berühmtesten in China wurde
die von ihm angefertigte Weltkarte, die den Chinesen überhaupt das erste Mal
einen Überblick über die Zusammenhänge der Weltstaaten und die eigene
geographische Lage als „Land der Mitte” verschaffte. Bekannt von ihm sind 27
Werke, davon die meisten in chinesischer Sprache. Berühmt ist seine Abhandlung
in Anlehnung an Cicero (in Chinesisch) „über die Freundschaft”, die ihm viele
Herzen der Chinesen öffnete. Wir nennen weiter den Disput über die Götzenlehren
in China, acht chinesische Gedichte, auch als Lieder von ihm vertont,
geometrische und mathematische Werke, die Kunst, das Gedächtnis zu trainieren
(Mnemotechnik), Abhandlungen über die Natur und Gott, über die zehn Widersprüche,
Lehrbuch des Lateinischen in chinesischer Sprache, chinesisches Wörterbuch mit
europäischer Aussprache-Bezeichnung und eine Reihe von Briefen, Seine gesamten
Werke sind in italienischer Sprache erschienen: Tacchi-Venturi, Opere storiche
del P. Matteo Ricci, 2 Bände, Macerata 1911/12; P.M. D`Elia, Fonti Ricciane, 3
Bände, Rom 1942 – 1949. Das beste in deutscher Sprache zugängliche Buch über
Ricci ist das von George H. Dunne, Das große Exempel. Die Chinamission der
Jesuiten, Stuttgart 1963.
[47] Es handelt sich um die Christenverfolgung, die 1664 unter der
Vormundschaftsregierung für den noch unmündigen K’ang-hsi ausbrach und deren
Hauptinitiator Yang Kuang-hsien (s. dazu auch unten S. 122, Anm. 17) war.
Soares streift das Ereignis kurz in seinem Bericht (am Ende des 1. Kapitels des
1. Teils, in den Novissima-Sinica-Ausgaben von 1697 und 1699 jeweils auf S. 11
f.).
[48] Streitigkeiten
zwischen den Vertretern des Papstes und den Portugiesen. Diese Streitigkeiten
gehen [zurück] auf die Teilung der Erde zwischen Spanien und Portugal seit der
Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und die Unterstellung der
Missionen entsprechend dieser Aufteilung auf Spanien und Portugal. Nach der
Papst-Bulle von 1514 hatte Portugal das Recht des Patronats über kirchliche Einkünfte
und Stellen in Afrika und anderen Ländern, die von Portugal besetzt wurden.
1534 besetzten die Portugiesen Goa, 1557 Macao, welches noch heute unter
portugiesischer Hoheit steht. Zu ihrem Einfluß- und damit auch Missions-Bereich
zählten die Portugiesen Indien und auch China. Die Ankunft der französischen
Mission in China 1685 wurde von den Portugiesen als Herausforderung empfunden.
Um die Portugiesen zufriedenzustellen, unterstellte Papst Alexander VIII. die
kirchlichen Diözesen Peking und Nanking der portugiesischen Kolonie Goa.
Apostolische Emissäre wurden nach China vom Papst entsandt, um aufgetretene
Streitigkeiten zu schlichten.
[49] Laut Lach (a.a.O., S. 79, Anm. 34) handelt es sich
wahrscheinlich um die Reise des chinesischen Mönchs Fahsien, der 399 – 411
n.d.Z. nach Indien, Ceylon und Java reiste und mit zahlreichen buddhistischen
Texten und Reliquien nach China zurückkehrte. „Fo” ist das chinesische Wort für
Buddha oder Buddhismus und wurde auch von den Jesuiten benutzt, um diese
Religion zu kennzeichnen.
[50] Vertrag von Nertschinsk vom 7.9. 1689: s. ausführlich unten
S. 108 ff.
[51] Brief und Siegel der kaiserlichen Behörde. Nach Lach, a.a.O.,
S. 81, Anmerkung 44, trug der Brief Grimaldis tatsächlich das Siegel der
kaiserlich-chinesischen Obersten Militärbehörde. Dieser Sachverhalt wird nach
Lach auch in zeitgenössischen chinesischen Quellen erwähnt.
[52] Unserem großen römischen Kaiser und dem König von Polen. Der
Versuch Grimaldis, über Moskau auf dem Landweg von Rom aus China zu erreichen,
fand im Jahre 1690 statt. Damals war Leopold I. (1658 – 1705) Römischer Kaiser
Deutscher Nation. König von Polen war 1674 – 1696 Johann Sobieski, der 1683 an
der Befreiung Wiens teilgenommen hatte.
[53] Avril, Philippe. 1654 (Angouleme) – 1698 (ertrunken bei
Formosa) Franzose, Jesuit. Wurde nach China geschickt, den Landweg über Aleppo,
Astrachan, Moskau nach China zu erkunden, um die Abhängigkeit von dem den
Portugiesen vorbehaltenen Seeweg zu beseitigen, wurde aber in Moskau
zurückgeschickt; sein 2. Versuch über Polen und Konstantinopel scheiterte
ebenso: beide Male wurde ihm von Peter dem Großen die Weiterreise verboten. Auf
dem 3. Versuch kam er bis nach Goa und in die Nähe von Formosa.
[54] Andreas Müller – 1630
(?) in Greiffenhagen/Pommern – 1694 Stettin. Lutherischer Theologe und
Orientalist, studierte zunächst in Rostock, Greifswald und Wittenberg, ging
1658 nach Leiden, um arabische Studien zu treiben und arbeitete sodann 10 Jahre
lang zusammen mit dem Professor für Arabische Sprachen Bryan Walton/Cambridge
an der Herausgabe eines siebensprachigen Lexikons der orientalischen Sprachen,
dessen Manuskript beim Brand von London 1666 vernichtet wurde. 1664 wurde er
zum Probst von Bernau, 1667 an die Nicolaikirche in Berlin berufen. Er geriet
sodann in öffentliche Kontroversen mit dem reformierten Pfarrer – der Große
Kurfürst begünstigte die reformierte Kirche – Elias Grebnitz, der ihm u. a.
Haeresie vorwarf und das von Müller betriebene Studium der chinesischen Sprache
als Teufelswerk bezeichnete. Diese Querelen wie auch die Tatsache, daß der
stets um Geld verlegene Große Kurfürst ihn finanziell nicht förderte und
Versprechungen nicht einlöste, bewogen ihn, 1685 seinen Abschied zu nehmen und
sich nach Stettin zurückzuziehen.
Müller war ein nach den
damaligen Maßstäben ernst zu nehmender, genau arbeitender Wissenschaftler. Er
war ein überaus fruchtbarer Publizist, bemühte sich aber stets, seine Quellen
präzise anzugeben. 1657 gab er eine in Berlin gefundene lateinische Version von
Marco Polos Reisebericht mit einer Einleitung heraus. Er verfaßte mehrere
Chronologien der chinesischen Kaiser, in seiner zweiten Ausgabe an Hand der
chinesischen Annalen (mit Quellenangaben), übersetzte das 1. Buch der
konfuzianischen Schriften ins Lateinische, publizierte 1672 einen Bericht über
die Nestorianische Stele (in Anlehnung an Kirchers China Illustrata), gab an
Hand der von Witsen 1666 veröffentlichten Karte im Jahre 1680 Namen sowie
Längen- und Breitengrade von 1672 chinesischen Ortschaften an (wahrscheinlich
auch an Hand der Karten und Angaben von Martini), die sich auch bei heutiger
Prüfung noch als ziemlich zuverlässig erweisen, und verglich 1685 die biblische
Karfreitag-Sonnenfinsternis mit dem Bericht einer Sonnenfinsternis der gleichen
Zeit in den chinesischen Annalen.
Er besorgte und sammelte für den
Großen Kurfürsten chinesische Originalwerke, deren Zahl er in seinem ersten
Katalog auf 20 Titel, nach einem späteren Katalog aber in der Zwischenzeit auf
300 erweitert hatte, womit Berlin an die Spitze derartiger Sammlungen der
damaligen Zeit gelangte. Zur Druckvorbereitung ließ er größere chinesische
Schriftzeichen aus Holzlettern herstellen, deren Sammlung noch heute in der
Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt wird. Das größte Aufsehen erregte er mit
der Ankündigung der von Leibniz erwähnten Clavis Sinica (= Chinesischer
Schlüssel, zu ergänzen: für die Erlernung der chinesischen Schriftzeichen, mit
Angabe ihrer Bedeutung in lateinischer Sprache, jedoch wahrscheinlich ohne
Angabe der Aussprache). Erwähnt sei, daß clavis = Schlüssel damals ein
beliebtes Modewort war für alle möglichen Zusammenstellungen, so hatte z. B.
Kircher einen „Schlüssel” für die Herstellung und Entzifferung von
Geheimschriften, der Arzt Christoph Mentzel für seine Forschungen auf dem
Gebiet der Botanik herausgegeben. In einem vier Seiten langen Vorschlag
(praepositio) warb Müller 1674 um Subskribenten für die Finanzierung des
Druckwerkes, auf welchen Weg ihn freundlicherweise der Große Kurfürst gewiesen
hatte, aber der Erfolg blieb aus. In Stettin hat Müller noch an der
Fertigstellung eines Manuskriptes gearbeitet, dieses aber vernichtet, weil er
von Berlin völlig im Stich gelassen worden war und nicht einmal mehr freien
Zutritt zu der von ihm geförderten Bibliothek hatte.
Die heutigen Meinungen über
Müller sind geteilt. Bereits Leibniz schildert seine Bedenken. Seriosität ist
Müller sicher nicht abzusprechen, seine Bemühungen müssen doch wohl als
Pionierleistung gewertet werden und dürfen nicht mit heutigen Maßstäben
gemessen werden.
Literatur: außer den Werken von Lach
und Merkel: Lach, the Chinese studies of Andreas Müller, Journal of the
American Oriental Society 60, 1940 S. 564-575.
[55] Ludolph, Hiob L. (1624-1704) war einer der größten
Orientalisten seiner Zeit. Er beschäftigte sich nicht nur mit den äthiopischen und
anderen Sprachen des Nahen Ostens, sondern auch mit der chinesischen Sprache,
deren Verwandtschaft mit anderen asiatischen oder afrikanischen Sprachen er zu
ergründen suchte. Auch die Merkwürdigkeiten Rußlands und der asiatischen Länder
interessierten ihn.
[56] Großer Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg
(1640-1688). Sein Sohn Kurfürst Friedrich III. (1688-1713) proklamierte 1701
als König Friedrich I. Preußen zum Königtum.
[57] Vota, Charles Maurice 1629-1715, ehemaliger Direktor der
Geographischen Akademie in Turin. Er wurde vom Papst Innozenz XI. als Gesandter
nach Wien und Warschau geschickt. 1684-1689 war er Leiter der Jesuiten-Mission
in Moskau, die bald nach der Thronbesteigung von Peter dem Großen geschlossen
wurde.
[58] Adam Adamandus
Kochanski (1631 – 1700). Er war Hofmathematiker des Königs von Polen
Johann Sobieski, mit Leibniz korrespondierte er 1670-1698.
[59] Der Vertrag, auf den Leibniz hier anspielt, ist
wahrscheinlich kein Handelsabkommen (wie man aus Leibniz` Worten vielleicht
entnehmen könnte – ein solches konnte zu dieser Zeit nicht ermittelt werden -),
sondern eher ein Verteidigungsbündnis gegen die Türken, deren letzter
expansiver Stoß 1683 nach seinem Mißlingen eine große Gegenoffensive vor allem
des habsburgischen Österreich und Polens bewirkt hatte. Bereits 1686 trat
Rußland der antitürkischen Liga, welche sich aus dem deutschen Kaiser, dem
Königreich Polen und der Republik Venedig zusammensetzte, bei. Noch kurz bevor
Peter der Große dann zu seiner umfassenden Europareise aufbrach, schlossen die
russischen Diplomaten in Wien am 8. Februar 1697 mit dem Kaiser und Venedig ein
neues Defensiv- und Offensivbündnis ab (vgl. G. Stökl, Russische Geschichte,
Stuttgart 1973, S. 346). Zu dieser Zeit war der Kampf Österreichs gegen die
Türken in vollem Gange: im Herbst 1697 sollte es zum Sieg über die Türken bei
Zenta kommen, der fast ganz Ungarn von der Türkenherrschaft befreite. Wenn
Leibniz also diesen Vertrag vom Februar 1697 mit seinem „neulich” meint, so
gibt er hier aktuellste politische Entwicklungen wieder (die Novissima Sinica
wurde nur wenig später veröffentlicht) und spricht gleichzeitig seine (dann
allerdings enttäuschte) Hoffnung aus, daß aus einer zunächst nur militärischen
auch eine wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit Rußland werden
könne.
[60] Menegatti, Francesco (1631 – 1700) Professor der Theologie
und Philosophie an der Universität Wien. Leibniz bemühte sich 1688/89 bei
seinem Besuch in Wien auch um Menegatti, der bald darauf Beichtvater des
Kaisers Leopold wurde.
[61] Justinian und die Seidenraupen: Wie im Falle der
„Seidenleute” selbst, so stammen auch bei der chinesischen Seide die ersten
wirklich sicheren antiken Erwähnungen erst aus der Zeit des Augustus (die bei
Aristoteles im Buch 5 der Historia animalium – Kap. 19, 551 b9 – angesprochenen
Seidenspinner sind nur eine mittelmeerische und nicht die echte chinesische
Art): Das vielleicht älteste Zeugnis sind die „serici pulvilli” (seidene
Kissen) in der 8. Epode (V. 15f.) des Dichters Horaz. Dieses Zeugnis besagt
natürlich nicht, daß Seide den Griechen und Römern nicht auch schon etwas
früher bekannt war: Das parthische Heer, das 53 v. Chr. bei Carrhae in Syrien
die römische Armee des Crassus vernichtete, führte laut dem Geschichtsschreiber
Florus (1, 46,8) Feldzeichen mit seidenen Bannern („vexilla serica”), und schon
Julius Caesar soll laut Cassius Dio (43, 24,2) das römische Zirkuspublikum mit
seidenen Stoffbahnen vor der Sonne geschützt haben. Seide galt als
ausgesprochen teurer, aber auch weibischer Luxus – so verbot der römische Senat
unter Kaiser Tiberius 16 n.d.Z. das Tragen von Seide für die Männer (Tacitus,
Annalen 2,33; Cassius Dio 57, 15,1). Wenn auch später Kaiser sich wieder
zunehmend in Seide kleideten, blieb sie doch im wesentlichen reichen Damen –
auch solchen von zweifelhafterem Gewerbe – vorbehalten; der römische Dichter
Lucan erwähnt etwa Seidenkleidung bei der letzten Ptolemäerkönigin Kleopatra
(10, 141 ff.).
Dabei war lange Zeit im Westen
recht unklar, wie die Seide überhaupt gewonnen wurde: der römische Dichter
Vergil (Georgica 2, 121) und der griechische Geograph Strabon (15, 1,20 p. 693)
– beide zur Zeit des Augustus – vertreten die Auffassung, daß das
Seidengespinst in Fäden an Bäumen hänge und von den Serern „heruntergekämmt”
werde. Wesentlich richtiger sind dagegen schon die Angaben des griechischen
„Reiseführers” Pausanias aus dem 2. Jhd. n.d.Z., der bereits von einer
regelrechten Seidenraupenzucht bei den Serern berichtet (6,26,6 – 8): „... Die
Fäden, von denen die Serer ihre Kleider machen, stammen von keiner pflanzlichen
Faser, sondern entstehen auf andere, und zwar folgende, Weise: Es gibt in
diesem Land ein kleines Tier, das die Griechen ,ser’ nennen, von den Serern
selbst aber wird es irgendwie anders und nicht ,ser’ genannt. Seine Größe beträgt
etwa das Doppelte der größten Mistkäferart, in sonstiger Hinsicht aber gleicht
es den Spinnen, die unter den Bäumen ihre Gewebe spinnen, und so hat es auch
ebenso wie die Spinnen acht Füße. Diese Tiere halten die Serer, indem sie ihnen
für Winter und Sommer die geeigneten Häuser bauen. Was die Tiere produzieren,
findet sich als feiner Faden um ihre Füße gewickelt. Sie ernähren sie vier
Jahre lang und geben ihnen als Futter Hirse.
Im fünften Jahr aber – denn sie
wissen, daß sie nicht länger leben werden – geben sie ihnen grünes Schilfrohr
zu fressen, das aber ist die süßeste Nahrung von allen für das Tier, es
überfrißt sich an dem Rohr und platzt infolge Überfütterung, und nachdem es so
verendet ist, finden sie in ihm den den größten Teil des Seidengarns.” Pausanias`
Informationen – die Richtiges noch mit viel Falschem vermengen – stammen
möglicherweise von der römischen Gesandtschaft des Kaisers Marc Aurel (regierte
161-180 n.d.Z.), die über den Seeweg in den Fernen Osten fuhr und im Oktober
166 n.d.Z. den chinesischen Kaiserhof erreichte (vgl. J. G. Frazer, Pausanias`
Description of Greece, Vol. 4, New York 1965, S. 110ff.).
Obwohl man also allmählich
bessere Kunde von der Herstellung der Seide bekam, sollte es noch einige
Jahrhunderte dauern, bis man nicht mehr nur auf den reinen Import der
chinesischen Fertigprodukte angewiesen war: der byzantinische Historiker Prokop
von Caesarea (6. Jhd. n.d.Z.) berichtet über den Schmuggel der ersten
Seidenraupeneier von China in den Westen zur Zeit des byzantinischen Kaisers
Justinian (regierte 527 – 565): „In dieser Zeit (= nach Prokops Erzählfolge
etwa 552/53) kamen einige der Mönche aus Indien zurück. Nachdem sie erfahren
hatten, daß Kaiser Justinian daran gelegen sei, daß die Römer (= Byzantiner)
keine Rohseide mehr von den Persern kauften, gingen sie zum Kaiser und
erklärten sich bereit, das mit der Seide so ins Werk zu setzen, daß die Römer
nicht mehr von den mit ihnen verfeindeten Persern oder irgendeinem anderen Volk
diesen Handel zu tätigen brauchten. Sie hätten nämlich lange Zeit in einem Land
weit jenseits der Völker Indiens verbracht, welches Serinda genannt werde, und
dort hätten sie genau erfahren, auf welche Weise die Seidenerzeugung im Land
der Römer möglich sei. Als der Kaiser da sehr beharrlich nachfragte und wissen
wollte, ob die Auskunft zutreffend sei, sagten die Mönche, eine Art Würmer
seien die Hersteller der Rohseide, wobei die Natur ihnen Lehrer sei und sie
veranlasse, beständig zu arbeiten. Es sei freilich unmöglich, die Würmer lebend
hierher zu bringen, bei ihrer Nachkommenschaft aber sei es wohl machbar und
sehr leicht: die Nachkommenschaft seien unzählige Eier von jedem Tier. Diese
Eier nun ließen Menschen noch lange Zeit nach ihrer Ablage zu Lebewesen werden,
wenn sie sie in Dung gesteckt und auf diese Weise eine ausreichende Zeit
angewärmt hätten. Als die Männer dies gesagt hatten, erklärte sich der Kaiser
bereit, sie großzügig zu beschenken, und überredete sie dazu, ihr Wort durch
die Tat zu bekräftigen. Sie aber zogen wieder nach Serinda, brachten die Eier
nach Byzanz, bewerkstelligten es in der genannten Weise, daß die Eier sich in
Würmer verwandelten, und ernährten sie mit den Blättern des Maulbeerbaumes; und
sie brachten es zuwege, daß von da ab künftig im Land der Römer Seide erzeugt
wurde.” (Prokop, De bello Gothico 4, 17,1 – 8)
[62] Kosmas Indikopleustes: Wahrscheinlich aus Alexandria in
Ägypten stammender Kaufmann zur Zeit Kaiser Justinians, unternahm Kosmas weite
Reisen nach Arabien, Ostafrika und vielleicht bis zur Insel Ceylon, was ihm dann
seinen Beinamen Indikopleustes („der Indienfahrer”) eingetragen hätte. Kosmas
gab in der Folge aber sein Kaufmannsleben auf und wurde Mönch, wahrscheinlich
in einem der Klöster des Berges Sinai, wo er dann wohl auch seine „Topographia
Christiana” („Christliche Ortskunde”) gegen Mitte des 6. Jhd. n.d.Z. verfaßte.
Die immer wieder betonte Haupttendenz dieses Werkes mutet seltsam
anachronistisch an: Kosmas lehnt die zu seiner Zeit schon Jahrhunderte alte und
recht fortschrittliche Lehre des Claudius Ptolemaeus von der Kugelgestalt der
Erde ab und setzt dem ein Weltbild gegenüber, das mit der Bibel in Einklang
stehen sollte: die Erde als länglich-rechteckige Scheibe mit steil aufragenden
Seitenwänden, die sich dann über ihr zum Himmel wölben. Dieser durch die
Religion geprägten falschen Grundauffassung stehen auf der anderen Seite aber
äußerst wertvolle geographische Exkurse gegenüber, zu denen auch Kosmas`
bemerkenswerte Kapitel über China gehören:
2,45 – 47 (Das Land, aus dem die
Seide stammt,
und seine Entfernung vom Westen)
(45) „Dieses Land der Seide
befindet sich in dem von allen am innersten (= östlichsten) gelegenen Teil
Indiens, wenn man in den Indischen Ozean einfährt, auf der linken Seite, und
zwar viel weiter jenseits als der Persische Golf und die Insel, die bei den
Indern Selediba, bei den Griechen aber Taprobane genannt wird (Ceylon). Das
Land heißt Tzinistu und wird ebenso auf seiner linken Seite (= im Osten oder
Nordosten) vom Okeanos umspült, wie auch die Barbaria (Nordafrika?) auf der
rechten Seite (= Westen) von ihm umgeben ist. Und die indischen Philosophen,
die sogenannten Brahmanen, behaupten, wenn man von Tzinista eine Schnur spannt,
so daß sie durch Persien hindurchgeht bis zur Romania (= byzantinisches Reich),
daß dies wie von einem Richtstab her die Mittelachse der Welt ist, und
vielleicht sagen sie die Wahrheit.
(46) Das Land liegt in der Tat
sehr weit zur Linken (= im Nordosten), so daß Seidentransporte – durch die
Übermittlung durch andere Völker – in kurzer Zeit von dort über Land nach
Persien gelangen, auf dem Seeweg jedoch ist es sehr große Distanzen von Persien
entfernt. Eine so große Distanz nämlich, wie der Persische Golf überbrückt,
wenn er in Persien eintritt – eine solch große Entfernung nochmals von
Taprobane (= Ceylon) aus und noch mehr zur Linken hin (= nach Nordosten) muß
man zurücklegen, wenn man nach Tzinista selbst fährt, nachdem man auch wiederum
beträchtliche Entfernungen von Anfang an vom Persischen Golf her hat, nämlich
den ganzen Indischen Ozean bis Taprobane und darüber hinaus. Derjenige, der
über Land von Tzinista nach Persien reist, kürzt also große Strecken ab; von
daher findet man auch immer eine Menge Seide in Persien. Jenseits von Tzinista
gibt es aber weder Schiffahrt noch bewohntes Gebiet.
(47) Wenn jemand nun von
Tzinista aus wie an einer Schnur entlang direkt zum Sonnenuntergang hin die
Distanzen der Größe der Erde mißt, wird er feststellen, daß sie mehr oder
weniger 400 Tagesreisen zu je 30 römischen Meilen (= etwa 1,5 km) betragen. Man
muß dabei folgendermaßen messen: von Tzinista bis zum Anfang von Persien machen
das gesamte Hunnenland, Indien und das Land der Baktrer ungefähr 150
Tagesreisen aus, wenn nicht mehr, jedenfalls nicht weniger; das gesamte Land
der Perser 80 Tagesreisen; und von Nisibis nach Seleukeia 13 Tagesreisen ...
von dort bis nach Gades in Spanien nochmals 150 Tagesreisen ...”
11,15 (Ceylon als Umschlagplatz
für den Handel aus West und Ost): „Aus ganz Indien, Persien und Äthiopien
empfängt die Insel aufgrund ihrer Mittellage viele Schiffe und sendet
gleichfalls auch viele aus, und von den weiter innen (d. h. östlich) gelegenen
Ländern (d. h. Tzinista) und anderen Handelsplätzen empfängt sie Seide, Aloe,
Gewürznelken, Sandelholz und überhaupt alles, was im Lande sich findet und gibt
es an die äußeren (d. h. westlichen) Länder weiter.
11,16 (Die Lage von Tzinista am
äußeren Rand von Asien):... und schließlich noch Tzinista, das die Seide
sendet; im Vergleich zu ihm gibt es kein Land, das weiter innen liegt, denn im
Osten umspült es der Okeanos.”
Bemerkenswert an Kosmas` Angaben
ist vielleicht vor allem sein Vergleich des See- und des Landweges nach China.
Ähnliche Überlegungen sollten über 1100 Jahre später Leibniz und die Jesuiten
dazu veranlassen, immer wieder nach der Möglichkeit eines Landweges durch
Rußland nach China zu suchen. Da Kosmas das Seidenland im Fernen Osten mit
„Tzinista” bezeichnet, stimmt Leibniz` Angabe über „Tzin” nicht ganz – er hebt
aber zu Recht hervor, daß Kosmas mit „Tzinista” (wahrscheinlich von Indien her
stammend: „Cinisthana”) schon weit auf dem richtigen Wege war. (Vgl. Novissima
Sinica-Vorrede, Kap. 17, 19, 20)
Editionen und Literatur:
– E.O. Winstedt, The Christian Topography of
Cosmas Indicopleustes, ed. with geographical notes, Cambridge 1909
– W. Wolska-Conus (ed.), Cosmas,
Indicopleustes, Topographie Chretienne (griech.-franz.), Paris 1698 – 1973, 3
Bde.
– Engl. Übersetzung: J. W. McCrindle (with
notes and introduction), London 1897
– vgl. außerdem die Artikel
„Kosmas Indikopleustes” in RE 11,2 (1922), Sp. 1487ff. und im Kl. Pauly Bd. 3,
München 1969, Sp. 315f.
[63] Adulis. Stadt an der Westküste des Roten Meeres im heutigen
Eritrea, 56 km südlich der Stadt Massaua in einer engen, geschützten Bucht des Roten
Meers gegenüber dem in die Zula-Bucht mündenden Haba-Fluß gelegen, war unter
den Ptolemäer-Herrschern Ptolemaios II. (285 – 246 v.d.Z.) und III. (246 – 21
v.d.Z.) Versorgungsstation für Elefantenjagden, später auch bedeutender
Handelsumschlagplatz für afrikanische und indische Waren; zuerst erwähnt im
Periplus maris Erythreae (der sowohl Adulis selbst wie seine Handelsbeziehungen
in allen Einzelheiten beschreibt und hierbei auch China erwähnt); Ausgrabungen
unter Lord Napier 1868. Seit dem Aufstieg des axumitischen Königreiches in
diesem Raum im 1. und 2. Jhd. n.d.Z. war Adulis der Haupthafen dieses Reiches.
Die von Kosmas dort gefundene und in seine „Topographia Christiana”
aufgenommene Inschrift (2,54 – 57 Beschreibung von Thron und Stele, auf denen sich
die Inschriften befanden; 2,58 – 63 der in schriftliche Text) sind in Wahrheit
zwei, wobei der ersten das Ende und der zweiten der Anfang fehlt: es handelt
sich einmal um eine Inschrift des Ptolemäerkönigs Ptolemaios III. Euergetes von
etwa 245 v.d.Z., in der dessen Siegeszug durch die Länder Asiens dargestellt
wird (publiziert als Nr. 54 in der Inschriftensammlung von W. Dittenberger,
Orientis Graeci Inscriptiones Selectae = OGIS, Bd. 1, Leipzig 1903, S. 84 –
88), zum anderen um die Siegesinschrift eines axumitischen Königs, dessen
Identität und Datierung bis heute umstritten sind (publiziert als OGIS Nr. 99,
Bd. 1, S. 284 – 96). Im 17. Jhd. hat man sich gleich mehrfach wissenschaftlich
mit den Inschriften von Adulis beschäftigt. Leider konnten wir Holstenius`
Edition, die Leibniz hier nennt, nicht verifizieren (ist Leibniz vielleicht
einer Verwechslung mit Allatius erlegen?), aber daneben sind noch mindestens
zwei andere Arbeiten aus dieser Zeit zu nennen: die Edition durch Leo Allatius
(Ptolemaei Euergetae ... monumentum Adulitanum, Rom 1631) und die Behandlung in
M. Thevenot, Relations de divers voyages curieux, Paris 1666. Leibniz konnte
also durchaus mit einigen Kenntnissen über die Adulis-Texte in seinem gelehrten
Leserkreis rechnen; vielleicht hat er gerade deswegen die mehr beiläufige
Bemerkung über die „Inscriptio Adulitana” als zusätzliche Illustration zu
Kosmas überhaupt eingefügt.
Ausgaben des Periplus:
– C. Müller Geographici Graeci minores 1855 – 61 I, S. 257 – 305
– W. H. Schaff translated and edited New York
1912
- H. Frisk, Le periple de la mer Erythree, 1927
– F. Gisinger, Art. „Periplus”,
R.E. 19,1 (1973), Sp. 839ff.
[64] Nestorianische Stele. S. die Übersetzung und Erläuterung S.
127ff.
[65] Athanasius Kircher – 1602 (Geisa bei Fulda) – 1680 (Rom).
Seit 1692 war er Professor für Mathematik, Philosophie und Orientalische
Sprachen in Würzburg. 1634 wurde er über Avignon nach Rom berufen. Dort lehrte
er im Collegium Romanum Mathematik, Hebräisch und Syrisch. Aus der Bibliothek
des Klosters San Salvatore auf Malta gab er eine Handschrift mit Pindars erster
pythischer Ode heraus, die vermutlich die älteste durch eine Notenschrift
bezeugte unterlegte Melodie enthält. Er legte naturwissenschaftliche Sammlungen
an, beschäftigte sich mit der Laterna Magica, erfand eine Rechenmaschine, eine
Maschine zur Erzeugung und Entschlüsselung von Geheimschriften, eine durch
Hebel zu betätigende in einem Holzkästchen befindliche
Musik-Kompositionsmechanik. Die beiden letzeren wurden jüngst in der
Bibliotheks-Ausstellung des Herzogs Ernst August im Schloß Wolfenbüttel
gezeigt, mit dem er wie auch mit Päpsten, Fürsten und Gelehrten seiner Zeit in
einem laufenden umfangreichen Briefwechsel stand.
Berühmt ist seine China
Illustrata, aus der Leibniz seine Kenntnisse über China, insbesondere über die
Nestorianische Stele aus Xi’an, bezogen hat, deren Inschrift Kircher, wie
Trigault berichtet, in Urschrift und lateinischer Übersetzung wiedergegeben
hat. In dem gleichen Buch hat Kircher versucht, die ägyptischen Hieroglyphen zu
entziffern, mit unzulänglichen Mitteln und daher negativem Erfolg. Wir haben
seinem Buch den Holzschnitt von Degener zu Adam Schall entnommen (s. die
Abbildung S. 49).
Eine Gesamtausgabe der Werke
Kirchers gibt es unserer Feststellung nach nicht. Sein umfangreicher
Briefwechsel, der einen großartigen Einblick in die Geistesgeschichte des 17.
Jahrhunderts gewähren würde, ist bis heute nicht ediert. Wir haben auch keine
modernere Biographie feststellen können. Herausgegeben wurde von A.
Langenmantel, 1901, seine 1684 in Augsburg erschienene Selbstbiographie.
Verzeichnis seiner Schriften bei Sommervogel, Bibliotheque de la Compagnie de
Jesus, Brüssel, Band 4 und 9, 1890 und 1900. (Die im Brockhaus-Artikel Kircher
erwähnte „Internationale Forschungsgesellschaft Athanasius Kircher” hat dem
Vernehmen nach bisher keine praktische Tätigkeit entfaltet.)
[66] Thevenot, Melchisedech 1620 – 1692, sammelte zahlreiche
Manuskripte (Handschriften) und veröffentlichte sie in zwei Bänden und vier
Teilen in „Relations de divers voyages curieux”, paris 1663 – 1672. Sie wurden
1696 neu gedruckt, aber die 5. Sektion war bis dahin noch nicht veröffentlicht.
Trotzdem scheint Leibniz auf die 5. Sektion Bezug zu nehmen.
[67] d`Herbelot de Molainville, Barthelemy 1625 – 1685, war ein
eifriger Student der orientalischen Sprachen, er arbeitete in den Sammlungen
von Paris und Florenz. Seine Bibliotheque orientale Paris 1697 enthält
Bezugnahmen auf das Alter des Christentums in China, aus Quellen des Vorderen
Orients herausgezogen, unter den Überschriften „Kerit” und „Nesturios”; 1708
gab Pater V. Visdelou einen Ergänzungsband der Bibliotheque orientale heraus,
der sich mit dem Fernen Osten beschäftigte.
[68] Magliabecchi, Antonio (1633 – 1714). Er war Kustos und
Organisator der Palatinischen Bibliothek in Florenz, die später in
National-Bibliothek umbenannt wurde.
[69] Christian Mentzel 1622 (Fürstenwalde) – 1701 (Berlin),
Leibarzt des Großen Kurfürsten. Betrieb systematische botanische und medizinische
Studien, wobei er sich Informationen durch ausgedehnten Briefwechsel mit den
Gelehrten seiner Zeit besorgte. Studierte Medizin und Naturwissenschaften in
Frankfurt/Oder und Königsberg; Reisen durch Polen, Holland, Italien, Malta;
promovierte in Padua 1654. Schrieb u. a. Catalogus plantarum circa Gedanum
sponte nascentium und lexicon plantarum polyglottum universale. Der Große
Kurfürst veranlaßte ihn, als Nachfolger von Andreas Müller dessen chinesische
Studien fortzusetzen. Mit Hilfe von Couplet ließ er 1685 ein Bild des Großen
Kurfürsten mit chinesischer Umschrift herstellen, das als Geschenk für den
Kaiser K’ang-hsi gedacht war, diesen aber wahrscheinlich niemals erreicht hat.
Literatur: Walter Arrelt, Christian Mentzel, Leibarzt des Großen Kurfürsten, Botaniker
und Sinologe, Leipzig 1940; Eva S. Kraft, Frühe chinesische Studien in Berlin,
Medizinhistorisches Journal 11 (1976), S. 92 – 125.
[70] do Amaral, Miguel = Ya Ma-la Eul und Kin Miko 1657
(Mangualdo/Portugal) – 1730 (Coimbra) Portugiese, Jesuit, war zweimal in China,
1685 Macao, dann Tsinan (1691), Shantung (1692), Chengtu, Hopei 1683 und Fukien
1694. Wurde sodann nach Europa geschickt, um die portugiesischen Priester im
Ritenstreit in Rom zu verteidigen, kehrte 1714 nach Goa zurück, war 1711 noch einmal
in Fukien, kehrte 1714 nach Goa und 1722 nach Lissabon zurück. Er war später
ein großer berühmter Prediger in Portugal, wobei er in seine Predigten seine
Erfahrungen in China einflechten konnte. 15 Briefe sind von ihm erhalten, die
sich mit dem Ritenstreit beschäftigen.
[71] Cochenheim, Ernst, war 1694-1699 Ratgeber des Fürst-Bischofs
von Münster, Friedrich Christian von Plettenberg. Seine Relationes Cochenheim
werden in dem Staatsarchiv von Münster aufbewahrt. Lach zitiert: Friedrich
Scharlach, Fürstbischof Friedrich Christian von Plettenberg und die
münsterische Politik im Koalitionskriege 1688 – 1697, Westfälische Zeitschrift
XCII (1937), 105.